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Entdecke den Urmenschen in dir! Unter diesem Motto können Besucher die altsteinzeitliche Welt des heutigen Niedersachsens erkunden.

© dpa

Archäologie: Ausflug in die Steinzeit

Zwischen weltberühmten Speeren und Przewalski-Pferden: Im „Paläon“ in Schöningen lässt sich erfahren, wie das Leben unserer Vorfahren vor 300 000 Jahren aussah.

Außen die Zukunft, innen die Vergangenheit. Wuchtige Quader schräg aufeinandergetürmt, viel Glas, verspiegelte Wände. Wie ein Flughafen für Raumschiffe glitzert das „Paläon“ aus der Ferne. Der imposante, vom Züricher Büro Holzer Kobler Architekturen entworfene Bau im Osten Niedersachsens beherbergt spektakuläre Funde aus der Altsteinzeit, die „Schöninger Speere“. Sie gelten als die ältesten vollständig erhaltenen Jagdwaffen der Menschheit und sind eine archäologische Sensation. Ab sofort sind sie wieder zugänglich, seit Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil heute das Erlebnis- und Forschungszentrum im Kreis Helmstedt eröffnete.

Sieben Speere und eine Lanze aus Holz hatten Archäologen zwischen 1994 und 1998 im aufgegebenen Schöninger Braunkohletagebau aus den dunklen Erdschichten geborgen. Dort hatten die hölzernen Gegenstände die Jahrtausende nahezu unversehrt überdauert. Außerdem fanden die Wissenschaftler mehr als 10 000 Knochen von Wildpferden, Bären, Auerochsen, Waldelefanten, dazu weitere Speerbruchstücke sowie ein Wurfholz. Das Alter der – bis auf einen – aus Fichtenholz gefertigten und bis zu 2,50 Meter langen Speere wurde zunächst auf 400 000 Jahre geschätzt, inzwischen gehen Wissenschaftler von „nur“ knapp 300 000 Jahren aus.

Eine Sensation sind die etwas schiefen Hölzer nach wie vor. Ihr Fund hat das Bild der kulturellen und sozialen Entwicklung des frühen Menschen revolutioniert. So konnte die früher weitverbreitete Forschermeinung widerlegt werden, wonach der Homo heidelbergensis – und übrigens auch noch der sehr viel jüngere Neandertaler – primitive, sprachlose Wesen waren, die sich von Pflanzen und Aas ernährten. Vielmehr zeugen die Entdeckungen von hohen technischen Fertigkeiten, weil sie den ersten eindeutigen Beleg für eine aktive Großwildjagd liefern. Homo heidelbergensis verfügte also über Fähigkeiten, die lange Zeit erst dem modernen Menschen zugestanden worden waren: Er konnte offenkundig vorausschauend denken und handeln und war nicht zuletzt in der Lage, auf einem gewissen Niveau zu kommunizieren. Sonst wäre die Jagd nicht erfolgreich gewesen.

Das unmittelbar am Rande des Tagebaus errichtete „Paläon“ präsentiert sechs der Speere in Vitrinen. Auf einer interaktiven Wand ist das Grabungsfeld zu sehen, bei sanftem Druck auf bestimmte Symbole leuchten die Fundstellen auf. An einer anderen Wand flimmern Bildschirme, computeranimierte Filmchen zeigen Büffelherden. Per Touchscreen können Besucher Informationen über die Tiere abrufen, die damals auch im heutigen Niedersachsen verbreitet waren und wohl mit Speeren wie den hier gezeigten gejagt wurden.

Glitzerwelt. Wie aus der Zeit gefallen erscheint das futuristische Paläon am ehemaligen Tagebau.
Glitzerwelt. Wie aus der Zeit gefallen erscheint das futuristische Paläon am ehemaligen Tagebau.

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Der russische Künstler Misha Shenbrot hat Tierfotos, eigene Bilder und grafische Elemente zu einer über 30 Meter breiten Collage montiert. Das Panorama zeigt die Entwicklung der Tier- und Pflanzenwelt von einer Eiszeit über eine Wärmeperiode bis zur nächsten Eiszeit. Am Fuß eines Gletschers sind Nashörner, Moschusochsen und Affenmenschen zu sehen. Ausgestorbene Tiere wie den Steppenelefanten mit den extrem langen Stoßzähnen hat Shenbrot selbst gezeichnet. „Ich bin extra nach Finnland gefahren, um authentische Landschaften zu finden“, erzählt der Künstler.

Vor dem Panorama liegen in Vitrinen Knochen von Nashörnern, Hirschen und Pferden, die zusammen mit den Urmenschen vor 300 000 Jahren gelebt haben. Ein paar Schritte weiter werden auch Einblicke in die Forschung geboten. In einem „gläsernen Labor“ können Besucher den Archäologen durch Fensterscheiben live bei der Arbeit zuschauen.

Die berühmten Speere von Schöningen sind auch zu sehen. Hinter Glas.
Die berühmten Speere von Schöningen sind auch zu sehen. Hinter Glas.

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Von draußen beobachten vier gedrungene, braune Przewalski-Pferde das Eröffnungs-Treiben. Es handelt sich um die einzige Wildpferdeart, die bis heute überlebt hat. Die vier Stuten stammen aus dem Zoo in Münster und aus einem Tierpark in Brandenburg. Nach mehreren Wochen in einem kleineren Eingewöhnungsgehege grasen die Tiere jetzt auf der steppenartigen Weide direkt neben dem Forschungs- und Erlebniszentrum. Die Wiese wurde unter anderem mit Birken bepflanzt und soll an die kaltzeitliche Steppenlandschaft von vor 300 000 Jahren erinnern.

Alles zusammen verdichtet sich aus Sicht von Geschäftsführer Florian Westphal zu einem umfassenden Bild vom Leben in der Altsteinzeit. Genau das wolle das Paläon auch darstellen, sagt er. Nicht nur als Museum, sondern als Ort, an dem Forschung erlebt werden könne. Das alles ist nicht gerade billig. Rund 15 Millionen Euro hat der Bau gekostet, finanziert vom Land Niedersachsen. Der Bund der Steuerzahler hatte das Projekt in der Vergangenheit als „Geldverschwendung“ kritisiert und empfohlen, die Schöninger Speere in einem der großen Museen des Landes in Hannover oder Braunschweig auszustellen. Doch dazu kam es nicht. Nur ein Speer ist in Hannover geblieben, im Landesamt für Denkmalpflege. Dort bleibt er unkonserviert verwahrt, damit ihn Forscher in Zukunft möglicherweise mit neuen Verfahren untersuchen können, die es heute noch gar nicht gibt.

Vor dem Paläon werden Przewalski-Pferde gehalten. Sie gehören zu der einzigen Wildpferdart, die bis heute überlebt hat. So soll Steinzeit-Gefühl aufkommen.
Vor dem Paläon werden Przewalski-Pferde gehalten. Sie gehören zu der einzigen Wildpferdart, die bis heute überlebt hat. So soll Steinzeit-Gefühl aufkommen.

© dpa

Die laufenden Kosten des Paläon sollen über das Eintrittsgeld gedeckt werden. Mit rund 70 000 Besuchern pro Jahr rechnet der Vorsitzende des Fördervereins der Schöninger Speere, Wolf-Michael Schmid. Eine optimistische Schätzung, zumal das Erlebnis- und Forschungszentrum mit öffentlichen Verkehrsmitteln nur sehr schlecht zu erreichen ist. Mehr als zwei Stunden dauert die Fahrt mit Regionalzug und Bussen vom nur 38 Kilometer entfernten Braunschweig, fast drei Stunden sind es sogar von Wolfsburg. Schmid verteidigt dennoch die Entscheidung zum Bau des Paläon auf freiem Feld: „Hier am Fundort ist das alles einfach viel authentischer.“

Ministerpräsident Weil griff den Streit um den Standort am Montag nicht auf. Das Paläon sei ein „einmaliges Projekt“, sagte er, die 15 Millionen eine gute Investition in die Zukunft. Niedersachsen entwickele sich damit immer mehr zu einer „Schatzkammer für Archäologen“. Erst vor wenigen Jahren war im Kreis Northeim am Harz ein germanisch-römisches Schlachtfeld aus dem 3. Jahrhundert entdeckt worden. Auch dieser Fund gilt als Sensation. Denn bis dahin waren Historiker davon ausgegangen, dass sich die Römer nach ihrer verheerenden Niederlage in der Varusschlacht im Jahre 9 hinter den Limes zurückgezogen und keine großen militärischen Expeditionen ins heutige Norddeutschland mehr unternommen hatten.

Das Paläon hat geöffnet dienstags bis freitags von 9 bis 17 Uhr, donnerstags von 9 bis 20 Uhr, an Wochenenden und Feiertagen von 10 bis 18 Uhr. Der Eintritt kostet 6 (erm.) bis 9,50 Euro (normal).

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