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Mohammad Mustafa Naier will an der TU Berlin promovieren und seinen ehemaligen Student:innen in Afghanistan helfen.

© TSP/Doris Spiekermann-Klaas

Alumni-Netzwerk als Fluchtkorridor: Mit Not-Stipendien bringt die TU afghanische Absolventen nach Berlin

Eine Million Euro wendet die Technische Universität auf, um ihre IT-Alumni nach Deutschland zu holen. Finanziell wird sie damit allein gelassen.

„Ich hatte Angst, dass sie mich erschießen, wenn sie mich finden. Sie denken nicht mal nach, ob du ein Mensch bist. Sie tun einfach, was sie wollen.“ Huma Ghani Zadas Stimme ist klar und fest, als sie von dem Schrecken erzählt, den die radikalislamischen Taliban seit ihrer Machtübernahme in Afghanistan ausüben. Bis zum 14. August 2021 hatte die 26-Jährige einen verantwortungsvollen Job: Sie war Managerin für Sicherheitssysteme und hat im IT-Direktorat im Präsidialbüro gearbeitet.

Einen Tag später änderte sich alles. Sie verlor ihre Arbeit, ihre Freiheit und – in den Augen der Terrororganisation – auch ihre Menschlichkeit. „Wir dürfen nichts mehr machen. Als Frau gehörst du nur noch jemandem“, sagt sie. Als dann eine E-Mail der Technischen Universität Berlin kam, dass sie mit einem Stipendium die Möglichkeit habe, nach Deutschland auszureisen, zögerte sie nicht. Am 26. Januar kam Ghani Zada in Deutschland an. Genau 365 Tagen zuvor hatte sie die TU verlassen, um als frische Master-Absolventin einen guten Job in Afghanistan zu finden.

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Ghani Zada ist eine von 125 IT-Alumni aus Afghanistan, die in den vergangenen 20 Jahren an der TU Berlin ihren Master absolviert haben. Nach der neuerlichen Machtübernahme durch die Taliban stellte das TU-Präsidium 2021 Mittel für Not-Stipendien in Höhe von einer Million Euro zur Verfügung, um sie als Gastwissenschaftler:innen nach Deutschland zu holen. In das „Bridge IT – Integrationsprogramm für afghanische IT-Alumni at Risk an der TU Berlin“, wurden 62 Menschen aufgenommen. 43 sind bereits in Deutschland angekommen, sechs warten auf die Aus- oder Weiterreise, die übrigen stehen noch am Anfang des Evakuierungs-Verfahrens. Viele kommen mit Familienangehörigen, insgesamt konnte die TU bereits 220 Afghan:innen aus dem Land holen.

Die Gelder dafür kommen ausschließlich aus der Uni-Kasse. „Wir mussten in der Situation sehr schnell entscheiden und haben deshalb die finanzielle Verpflichtung übernommen“, sagt Ulrike Hillemann-Delaney, Leiterin der internationalen Abteilung der TU. Pro Stipendium vergibt die TU Berlin mehr als 1.200 Euro pro Monat für die ersten sechs Monate. „Aber wir dachten, dass sich mit der Zeit andere Stellen anschließen.“ Bislang werden die Notstipendien aber weder von Landes- noch von Bundesseite unterstützt.

Gelder für das Begleitprogramm soll es nur noch dieses Jahr geben

Die TU hilft indes weit über die Evakuierung hinaus: Ein Begleitprogramm soll die Angekommenen mit Weiterbildungs- und Beratungsangeboten zu Aufenthaltsfragen sowie Sprachkursen bei der Integration unterstützen. „Wichtig ist es, dass sie hier einen Einstieg in den Arbeitsmarkt finden oder auch eine akademische Laufbahn einschlagen können“, sagt TU-Präsidentin Geraldine Rauch. Beide Wege werden von der TU begleitet und gefördert. Dieses Programm finanziert der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) mit knapp 150.000 Euro – aber nur bis Ende des Jahres. Was ab 2023 geschieht, sei ungewiss, sagt Hillemann-Delaney.

Denn von den drastischen Kürzungen, die die Bundesregierung im Wissenschaftsbereich beschlossen hat, sind auch Programme des DAAD wie das Integra-Projekt der TU Berlin betroffen, mit dem Geflüchtete aus Afghanistan oder der Ukraine zurück ins Studium oder in den Arbeitsmarkt gebracht werden konnten.

Zu den Menschen, die von der TU nach Berlin geholt wurden, gehören auch Mustafa Naier, seine Frau und sein dreieinhalbjähriger Sohn. Für sich und seine Familie plant er zumindest die nährere Zukunft in Berlin. „Gestern hat mein Sohn ‚Guten Morgen Papa’ gesagt“, erzählt Naier, der an der Kabul Polytechnic University als Assistant Professor für Informatik unterrichtet hat. Viele seiner ehemaligen Studierenden schreiben ihm noch. „Ihnen fehlt die Motivation, sie wissen nicht, wofür sie lernen sollen. Ich sage immer: Wenn du lernst, stehen dir immer gute Optionen offen. Was du lernst, kann dir niemand nehmen. Wenn du damit aufhörst, verlierst du.“

Huma Ghani Zada floh genau ein Jahr nach ihrem Abschluss wieder zurück nach Deutschland.
Huma Ghani Zada floh genau ein Jahr nach ihrem Abschluss wieder zurück nach Deutschland.

© TU Berlin/Christian Kielmann

Auch der junge Professor hatte nach der Übernahme der Taliban die Hoffnung auf ein gutes Leben verloren. Neben seiner Lehrtätigkeit war der 33-Jährige Director of Public Key Infrastructure im Ministerium für Telekommunikation und Informationstechnologie und unter anderem verantwortlich für den Aufbau einer IT-Infrastruktur für alle staatlichen Organisationen in Afghanistan. „Das war eine verantwortungsvolle Position. Ich war dort erfolgreich, ich war jemand“, sagt Naier. Er habe seit Jahren davon geträumt, ein nationales Datenzentrum zu errichten. Im Sommer 2021 hätten er und sein Team kurz vor der Umsetzung gestanden. „Nach dem 15. August bleibt das für immer ein Traum.“

Die Einladung der TU bot ihm einen Ausweg. Naier buchte für sich und seine Familie ein Ticket in den Iran, um dort zur deutschen Botschaft zu gehen. Von dort aus fanden sie den Weg nach Berlin. Erst als er angekommen war, setzte sich Naier hin und schickte seine Kündigung per E-Mail ans Ministerium in Kabul.

Seine Student:innen will er jetzt von Berlin aus unterstützen: Zusammen mit anderen Absolvent:innen arbeitet er daran, eine digitale Hochschulplattform zwischen deutschen und afghanischen Universitäten aufzubauen. Damit das Lernen nie aufhört – so steht es auf der Demoversion der Website. Naier hofft auf deutsche Hilfe – auch für das gesamte Bildungswesen in Afghanistan. „Bitte lasst’ uns nicht allein.“

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Für die intensive Beziehung der Technischen Universität in das Land ist Nazir Peroz verantwortlich. Der Informatiker ist selbst in den 70er Jahren aus Afghanistan nach Deutschland gekommen und hat an der TU Berlin das Zentrum für internationale und interkulturelle Kommunikation (ZiiK) gegründet. Mehr als 20 Jahre lang hat er geholfen, Rechenzentren an afghanischen Universitäten zu errichten. Bis zum Jahr 2021 wurden dort mehr als 30.000 Hochschulangehörige ausgebildet. Ein Stipendium bot vielen Afghan:innen die Chance, an der TU zu studieren. Für Peroz kann IT ein Motor sein, der Entwicklungsarbeit vorantreibt. Dabei sollten nicht lediglich Technologien aus Deutschland übernommen werden, es müsse immer um bedarfsortientierte Lösungen gehen.

Was gerade in seiner Heimat geschieht, sowohl mit seinem Werk als auch den Menschen, tut Peroz weh. „Jeden Tag schreibt mir jemand mit der Bitte um Hilfe“, sagt er. Das Bildungswesen sei komplett zusammengebrochen. Es fehle an Geldern und Personal. Die meisten gut Ausgebildeten hätten das Land verlassen, wer bleiben müsse, bekomme kein Gehalt. „Gehen sie jedoch nicht zur Arbeit, werden sie von den Taliban bestraft.“ Peroz hofft, dass sich noch für viele Ortskräfte aus dem Bereich der IT ein Weg aus Afghanistan findet. Scholars at Risk, ein internationales Netzwerk akademischer Institutionen, berichtet von gezielten Tötungen von Wissenschaftler:innen und gewalttätigen Angriffen auf Hochschuleinrichtungen.

TU überlegt, Hilfsprogramme auf andere Krisenregionen auszuweiten

Für Frauen wie Huma Ghani Zada, die einen regierungsnahen Job und durch ihren Master Verbindungen nach Deutschland hatte, war die Situation besonders gefährlich. Sie berichtet, wie sie sich seit dem Fall Kabuls versteckt hat. „Meine Mutter hat die Tage gezählt, bis ich das Land verlasse“, sagt Ghani Zada. Sie sei sicher gewesen, dass sie nicht mehr nach Afghanistan zurückkehren wird, sobald sie geht. „Aber schon bei der Ankunft am Flughafen habe ich mein Land vermisst und meine Familie.“ Sie beschließt: Wenn Afghanistan seine Freiheit wiedererlangt, findet sie einen Weg nach Hause.

Die TU Berlin bemüht sich unterdessen, die verbleibenden Alumni nachzuholen, die bereits eine Zusage erhalten haben. Ein neues Programm werde zunächst nicht ausgeschrieben, sagt Hillemann-Delaney. „Wir beobachten erstmal, wie es dort weitergeht.“ Aufbauend auf den Erfahrungen überlege die TU derzeit, IT im Kontext von Entwicklungszusammenarbeit auf andere Krisenregionen der Welt auszuweiten.

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