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Tobias Esch (li.) und Eckart von Hirschhausen.

© CAMILLO WIZ

Alters- und Glücksforschung: Die U-Kurve des Lebens

Das Leben fängt nicht mit 66 Jahren an, sondern mit 50, sagt Eckart von Hirschhausen. Daran kann auch die Gleitsichtbrille nichts ändern.

Als ich vor 25 Jahren meine ersten Texte für den Tagesspiegel schreiben durfte, lernte ich eine Grundregel im Umgang mit Sensationsmeldungen: Wenn etwas zu schön klingt, um wahr zu sein, ist es meistens nicht wahr. Jetzt komme ich selbst mit einer Sensationsmeldung. Prüfen Sie, ob sie für Sie oder für Menschen aus Ihrer Familie und Umgebung zutrifft: Die zweite Lebenshälfte ist die bessere!

Zusammen mit dem Experten für die Neurobiologie des Glücks, Professor Tobias Esch, habe ich ein ganzes Buch darüber geschrieben. Nun, eigentlich haben wir gesprochen und das verschriftlicht. Es ist ein Dialog, ein ärztliches Gespräch unter Freunden. Ein Thema war der Augenoptiker: Ich bekam mit 50 eine Lesebrille. Sie ist der erste Hinweis, dass die Gleitsicht ins Leben tritt – aber eben auch Weitsicht und Augenzwinkern. Der Verkäufer war ein Schlitzohr. Er versuchte, mir jedes schlechte Gefühl zu nehmen und sagte stets "Entspannungsbrille". Er wusste nichts davon, dass, anders als die Augen, vieles mit den Jahren besser wird. Jeder hat zwei Leben. Das zweite beginnt, wenn man kapiert, dass man nur eins hat.

Ich habe an meinem fünfzigsten Geburtstag entschieden, dass ich niemandem mehr etwas beweisen muss. Jetzt geht’s in die bessere Hälfte. Warum soll ich versuchen zu werden wie andere. Andere gibt es doch schon genug. In dem Moment, da man erkennt, dass mehr hinter einem liegt als vor einem, ist das erst mal bedrohlich. Auf der anderen Seite kann es der Moment sein, in dem man sagt: Wenn das Leben endlich ist, dann fang' ich endlich an zu leben.

Später kommt noch ein Bonbon – darauf kann man sich freuen

Tobias Esch hat herausgefunden, dass die Zufriedenheit im Laufe des Lebens meistens eine U-Kurve macht. Mit einer guten Portion Selbstüberschätzung und Eroberungsdrang geht man als Jugendlicher in die Welt. Es braucht den Kick, die Ekstase, den Wettbewerb und das Erobern. Er nennt das Typ-A-Glück. In der Mitte des Lebens kommt dann meist viel Stress, weil man das verteidigen will, was man bis dahin erreicht hat. Das ist Typ B, der mit anderen Hormonen und Botenstoffen im Hirn einhergeht. Nach diesem "Tal der Tränen" werden die Stresshormone umgebaut und es kehrt im besten Fall mit dem Oxytocin und den Endorphinen die Gelassenheit wieder ein: Typ C.

Wenn man diese U-Kurve kennt, kann man sich in der Lebensmitte bereits weniger Stress machen und sich auf das Bonbon, das später kommt, freuen. Das ist unsere Botschaft an alle, die gerade in der Rushhour des Lebens stecken, in der sie kleine Kinder haben, ein Haus bauen, Karriere machen sollen, die Eltern langsam krank werden und sie selber erste Zipperlein haben. Ab wann es wieder bergauf geht, ist in jedem Leben anders. Bei vielen ist es in der Zeit zwischen 40 und 50. Bei mir äußert sich das so, dass ich nicht mehr wie ein Verrückter Wissen sammeln muss. Ich habe verstanden, dass ich genug kapiert habe, um etwas weiterzugeben.

Wissen weitergeben macht Spaß

Eine Frage, die mir mit 25 noch nicht kam: Was ist mein Beitrag zu dieser Welt? Jeder kann sich überlegen, was man anderen beibringen kann, was man pflanzen kann, was über unser kleines Ego hinausweist. Das muss gar nichts Öffentliches sein. Vielleicht liest man einem Kind vor oder hilft seinem Nachbarn. Eine Oma kümmert sich um ihre Enkel und gibt ihnen ihre Werte weiter, während die Eltern gestresst in der Konferenzschaltung sitzen. In dem Buch schreiben wir viel über unsere Mütter und Großmütter. Sie sind die, die oft im Hintergrund Familien und Wissen zusammenhalten, die existenzielle Dinge weitergeben wie: "Zieh dir was an die Füße". Weitergeben macht unglaublich zufrieden. Ich habe einen Lehrauftrag für Sprache in der Medizin und genieße die Vorlesungen für die Studierenden sehr. Wenn ich in Augen gucke, die noch so jung und wissbegierig sind, ist das einfach toll. Ich mache auch gerne Fernsehen und weiß, dass da Millionen zugucken. Aber wenn man bedenkt, dass diese Studenten über ihre Lebenszeit viele Tausend Menschen untersuchen und ihnen weiterhelfen, dann spreche ich in diesem Moment ebenfalls indirekt zu Millionen. Das ist eine Freude, die mir heute zum Beispiel mehr bedeutet als vor zehn Jahren. Diese Vorboten fürs Alter machen Lust auf mehr.

Wo Anti-Aging draufsteht, ist nie Lebensfreude drin

Unsere Gleitsichtbrillen sind nicht rosa. Wir behaupten nicht, dass alles gut wird. Wir schreiben auch über Depressionen, Krebs und Schmerzen. Diese Themen sind auch Teil der Realität. Aber sie überwiegen nicht. Heute werden wir älter als alle Generationen vor uns. Die meisten in Deutschland leben zehn, manche zwanzig Jahre länger als ihre Großeltern. Das ist doch toll. Doch man hört ständig nur von demografischen Katastrophen, mit Schlagzeilen wie: "Wohin mit den ganzen Alten?" Wir müssen uns klar werden, dass Älterwerden eine Chance ist, ein Geschenk. Dann gehen wir auch anders damit um. Natürlich müssen wir für anständige Pflege sorgen, für Wohnen in Gemeinschaft, für Verhaltens- und Verhältnisprävention, die uns viele gesunde Lebensjahre schenken kann.

Der Zeitgeist lechzt nach ewiger Jugend. Jede Kosmetikabteilung ist voller "Anti-Aging". Ich finde Lachfalten sexy. Oft herzhaft lachen ist das Gesündeste, was man tun kann. Dann kriegt man halt faltige Augen, na und? Wo Anti-Aging draufsteht, ist nie Lebensfreude drin! Die Medizin tut so, als wäre Alter eine Krankheit. Die Ärzte können diesem Anspruch nicht gerecht werden. Und die Patienten erwarten zu viel von der Medizin. Sie verpassen dadurch das, was wirklich wirkt, nämlich an ihrer Lebensweise zu schrauben. Schon wer eine positive Lebenseinstellung hat, erhöht rein statistisch seine Lebenserwartung um sieben Jahre. Ich kenne nicht viele Medikamente, die das können.

Wir erwarten Wunder von der Medizin, und die Medizin bedient das auch, indem sie zu viel macht: zu viele Medikamente, zu viele Operationen. In der Zukunft sollte sie den Patienten keine Dinge mehr aufdrücken, die sie nicht brauchen. Die Medizin soll ältere Menschen begleiten, mit ihnen gemeinsam Entscheidungen fällen.

Mit Humor altert es sich leichter

Ab der Lebensmitte emanzipiert sich die seelische Gesundheit ohnehin von der körperlichen. Untersuchungen zeigen: Die Chance, im Alter zufrieden zu sein, steht bei über 80 Prozent. Natürlich wird man irgendwann auch zum "alten Alten". Mit 80, 85 nehmen Einschränkungen zu, die letzten Jahre sind oft bitter. Doch die Periode davor ist lang. Die Zeit nach der Pensionierung ist länger ist als Pubertät oder Ausbildungszeit. Sie gilt es zu gestalten, sich früh zu fragen: Wer ist mir wichtig? Was ist mir wichtig? Oft beginnen Menschen erst nach dem Infarkt oder der Krebsdiagnose über ihre Prioritäten nachzudenken.

Im Buch stellen wir auch Menschen vor, von denen wir viel lernen können: Dagmar Marth etwa, die mit Mitte 20 bei einem U-Bahn-Unfall einen Arm und ein Bein verlor. Inzwischen ist sie Beraterin am Unfallkrankenhaus Berlin für Menschen, die vor einer Amputation stehen. Sie hat aus dem Schicksalsschlag das Beste gemacht. Ich finde es ermutigend, mit Leuten zu sprechen, denen nicht alles in den Schoß gefallen ist. Wenn die ihr Leben schaffen, kommen mir meine Gleitsicht-Probleme plötzlich klein vor.

Humor ist für mich ein Zeichen für persönliche Reife, für Spiritualität, für heitere Gelassenheit. Humor ist ein Lebenselixier, das uns mit den Widersprüchen des Alltags leben lässt. Man muss sich an Menschen orientieren, die Humor haben. Denn der ist ansteckend. Altern ist kein "Schicksal". Es ist Leben für Fortgeschrittene. Ich freu mich drauf. Und Sie?

Eckart von Hirschhausen, Tobias Esch: Die bessere Hälfte – Worauf wir uns mitten im Leben freuen können. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 2018. 288 Seiten. 18 Euro

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