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Etwa sechs Millionen Menschen in Deutschland können nur schlecht lesen und schreiben.

© Kitty Kleist-Heinrich

Alphabetisierung in der Pandemie: Gering Gebildete hadern mit Leseproblemen in der Coronakrise

Lesen hat einen hohen Stellenwert in der Bevölkerung, zeigt eine neue Studie. Doch es gibt eine Kluft bei der Alphabetisierung – mit Folgen in der Coronakrise.

Welche Bedeutung hat Lesen im selbsternannten Land der „Dichter und Denker“? Mehr als 70 Prozent der Deutschen meinen: Lesen ist eine der besonders wichtigen Fähigkeiten im Leben – und wenn man es nicht gut kann, sollte man unbedingt daran arbeiten. Zu diesem Ergebnis kommt eine neue repräsentative Umfrage des Allensbach-Instituts im Auftrag der Stiftung Lesen.

Rund 1000 Personen ab 16 Jahren kamen in der Umfrage zu Wort. „Etwa sechs Millionen Erwachsene in Deutschland können nicht gut lesen und schreiben“, sagte die Kommunikationsforscherin und Studienverantwortliche Simone Ehmig von der Stiftung Lesen bei einer virtuellen Präsentation der Ergebnisse am Donnerstag. Doch es gebe recht gute Voraussetzungen, das zu ändern, weil der Bevölkerung die Bedeutung dieser Fähigkeiten bewusst sei.

Allerdings rangiert die Lesefähigkeit in der Umfrage auf Platz 2: Noch häufiger als besonders wichtig im Leben nennen die Befragten den Umgang mit Geld – das sind 80 Prozent der Studienteilnehmer:innen. Die Fähigkeiten „Rechnen“ und „Mit dem Computer umgehen“ werden gleich häufig genannt (70 Prozent), danach kommt „Körperlich fit sein“ (67 Prozent) und „Schreiben“ (64 Prozent).

Eine weitere Erkenntnis: Es gibt große Unterschiede zwischen Menschen mit einer „einfachen Bildung“ – also zum Beispiel denjenigen mit Hauptschulabschluss, und denjenigen Menschen mit einer mittleren oder höheren Bildung wie Akademiker:innen. Nur etwas mehr als die Hälfte der Menschen mit einfacher Bildung findet: „Für mich gehört Lesen einfach zum Leben dazu“, während 71 Prozent der gebildeteren Befragten Lesen als Teil ihres Lebens betrachten.

Einfach gebildete Menschen blicken offenbar auch mit mehr Ängsten in die Zukunft. Sie befürchten aufgrund der Digitalisierung häufiger, „dass alles viel komplizierter wird“ oder dass sie „mit der technischen Entwicklung nicht mehr mitkommen“ und dadurch abgehängt werden.

Einfach Gebildete durchblicken Pandemie weniger

Auch das Durchdringen der Corona-Pandemie bereitet einfach Gebildeten mehr Schwierigkeiten. Der Aussage „Viele Informationen im Zusammenhang mit Corona sind mir zu kompliziert, ich verstehe sie nicht“ stimmten 39 Prozent der einfach Gebildeten zu, und nur 23 Prozent der besser Gebildeten.

Viele Menschen, die Lesen und Schreiben lernen wollen, müssen das noch immer von zu Hause tun.
Viele Menschen, die Lesen und Schreiben lernen wollen, müssen das noch immer von zu Hause tun.

© Maja Hitij/dpa

Britta Marschke, Geschäftsführerin des Vereins „Gesellschaft für interkulturelles Zusammenleben“, kennt diese Probleme beim Lesen- und Schreibenlernen aus der Praxis. In Berlin-Spandau betreibt der Verein ein Lerncafé für Migranten und bietet Sprachkurse an.

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Kursteilnehmer:innen stolperten über Begriffe wie „R-Wert“ und „Inzidenz“, die wegen der Coronavirus-Gefahr maßgeblich sind. „In der Pandemie ist es noch wichtiger, dass gering Literalisierte ihre Lese- und Schreibfähigkeiten zu Hause üben“, sagte Marschke bei der Studienpräsentation am Donnerstag.

Manche verlieren den Draht zu Kursangeboten

Doch viele Menschen hätten beispielsweise keinen Rechner Zuhause und müssten dann auf dem kleinen Handydisplay lesen. „Das ist schon mal schwierig. Außerdem fehlt einigen auch Datenvolumen oder ein zuverlässiges WLAN-Netz.“ Besonders Lehrkräfte merkten in so einer Situation, dass das digitale Lehren in der Pandemie seine Tücken habe.

„Manche Teilnehmer, die eine Einweisung in digitale Medien bekommen haben, erreichen wir mit unseren Kursangeboten – andere erreichen wir aber auch nicht“, sagte Marschke. Umso wichtiger sei es, dass Lehrkräfte der Sprachkurse sich einzeln mit Kursteilnehmer:innen abstimmen, „damit wir niemandem beim Lesen- und Schreibenlernen verlieren“.

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Viele Menschen mit einfacher Bildung, die nicht gut lesen und schreiben können, sind der Studie zufolge häufig an- oder ungelernt. Diese Bevölkerungsgruppe arbeitet zum Beispiel auf dem Bau oder reinigt Gebäude – Homeoffice und Kontaktvermeidung ist in solchen Fällen nicht möglich.

Stiftung Lesen setzt auf digitale Lernangebote

„Gerade diejenigen, die sich engmaschig informieren müssen, weil ihre Arbeits- und Lebensbedingungen ihr Infektionsrisiko erhöhen, sind aber mit (digitalen) Informationsangeboten häufig überfordert“, heißt es im Fazit der Studie.

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Umso mehr müssten Menschen mit schlechten Lese- und Schreibfähigkeiten besser auf den Alltag vorbereitet werden. Hier seien besonders digitale Lernangebote gefragt, die die Lebens- und Arbeitswelt der Menschen abbildet, heißt es in der Studie der Stiftung Lesen.

Wann wieder Lese- und Schreibkurse vor Ort stattfinden können, bleibt aufgrund der dynamischen Pandemielage unklar.
Wann wieder Lese- und Schreibkurse vor Ort stattfinden können, bleibt aufgrund der dynamischen Pandemielage unklar.

© Carmen Jaspersen/dpa

Welchen Unterschied das Lesenlernen im Leben machen kann, weiß der 45-jährige Enrico Bakán aus Dresden mittlerweile. „Bei meinem alten Job habe ich mich immer ohne lesen zu können durchgemogelt. Dann hatte ich einen Unfall und konnte wegen meinem verletzten Fuß nicht mehr zurück zu meiner alten Stelle“, erzählte Bakán.

Beim Arbeitsamt konnte Bakán sich einer Vermittlerin anvertrauen, die ihn dann an die Dresdner Beratungsstelle „koalpha“ vermittelt hat. In einem Lehrgang lernte Bakán anschließend lesen und schreiben. „Seitdem habe ich eine neue Arbeit gefunden. Ich brauche mich nicht mehr verstecken.“ Es sei lohnenswert, sich nochmal auf die Schulbank zu setzen, doch Betroffene müssten durch mehr Anlaufstellen wie „koalpha“ erreicht werden.  

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