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Ein Mann und zwei Frauen stehen an einer Tafel zur Geschichte des Berliner Osteuropa-Instituts und unterhalten sich.

© Tsp/Burchard

Akademisches Exil in Berlin: „Wir kommen aus einer Stadt, die bombardiert wird"

Zwei Soziologinnen aus Kyiv finden Zuflucht an der Freien Universität Berlin. Sie wollen weiterforschen – und setzen sich für Kollegen in der Heimat ein.

„Wir sehnten uns nach einem sicheren und ruhigen Ort, um Online-Lehrveranstaltungen vorzubereiten und unsere Forschung fortzusetzen“, sagt Tamara Martsenyuk, Soziologin an der Nationaluniversität Kyiv Mohyla Academy. „Hier in Berlin werden wir das schaffen“, ist sich auch ihre Kollegin Tetiana Kostiuchenko sicher.

Der „safe space“ der beiden Forscherinnen ist seit Montag das Osteuropa-Institut der Freien Universität – und eine Wohnung, die ihnen „Freunde von Freunden“ vermittelt haben. In Dahlem erhalten sie Überbrückungsstipendien für drei Monate, aus einem neuen Fonds der Universität, mit dem Gastwissenschaftler:innen aus der Ukraine, Belarus und Russland unterstützt werden.

Nachdem die beiden Soziologinnen in der Institutsverwaltung erste Formalitäten erledigt haben, sind sie bereit für ein Gespräch über ihre Flucht nach Berlin, ihre Pläne und Hoffnungen. Martsenyuk und Kostiuchenko sind seit dem 10. März in der Stadt, gemeinsam hatten sie zwei Tage vorher Platz in einem überfüllten Evakuierungszug in Richtung polnischer Grenze gefunden.

„Warum bleibt ihr in Kyiv? Ihr könnt zu uns kommen“

„Am achten März, dem internationalen Kampftag der Frauen, wollte ich wie jedes Jahr auf die Straße gehen, diesmal sollte es um die Ratifizierung der Istanbul-Konvention gegen häusliche Gewalt gegen Frauen gehen“, erzählt Martsenyuk (40), eine international renommierte Genderforscherin, die an der Columbia-Universität in New York und in Stanford sowie an der Viadrina in Frankfurt (Oder) forschte. Doch die Vorbereitungen für die Demo werden jäh unterbrochen.

Eine junge Frau mit Büchern im Arm steht in einem Arbeitszimmer.
Die Soziologin und Genderforscherin Tamara Martsenyuk in ihrem Arbeitszimmer in der Kyiv Mohyla Academy.

© privat

Ein Porträtbild von Tetiana Kostiuchenko.
Die Soziologin Tetiana Kostiuchenko forscht u.a. zu Fragen der Kontinuität von Eliten in der Ukraine.

© privat

Als Ende Februar die ersten russischen Bomben auf Kyiv fallen, tut sie sich mit Tetiana Kostiuchenko (38) zusammen. Sie forscht an der Nationaluniversität über die Kontinuität der Eliten in der Ukraine und war unter anderem zu Gast an der Indiana University Bloomington. In Martsenyuks Wohnung kleben sie die Fensterscheiben ab.

Sie verbringen während der Bombardements Stunden in der Badewanne, mit Wintermänteln über den Köpfen, wie es gegen herabfallende Trümmerteile empfohlen wird. Neun Tage leben sie so. „Dann erreichten uns immer mehr Anfragen aus dem Ausland: Warum bleibt ihr in Kyiv? Ihr könnt zu uns kommen, es gibt Programme für geflüchtete Wissenschaftler:innen.“

Eine Petition für Kollegen, die in der Ukraine bleiben müssen

Martsenyuk und Kostiuchenko entscheiden sich für Berlin, sie wollen „in der Nähe der Ukraine bleiben“. In der Hoffnung, bald zurückkehren zu können, aus Solidarität mit ihren Kollegen, die nicht ausreisen dürfen, und mit Kolleginnen, die bleiben müssen, etwa um ihre alten Eltern zu versorgen.

Die Soziologinnen haben eine Petition ukrainischer Forschender an Institutionen und Stiftungen weltweit unterschrieben. Sie danken für Stipendien im Ausland – und fordern solche Hilfsprogramme auch für diejenigen, denen das Ausland versperrt ist: „Remote positions for Ukrainian refugee scholars“, Fernarbeitsverträge für ukrainische Wissenschaftler, die teilweise bereits binnenvertrieben sind.

Das historische Rundgebäude der Nationaluniversität von Kyiv.
Die ukrainische Nationaluniversität Kyiv Mohyla Academy - gegründet 1632, geschlossen 1918, wiedereröffnet 1992.

© Mykola Vasylechko/Wikipedia

Am Osteuropa-Institut der FU wolle man den Gästen ermöglichen, sich auf digitale Lehrveranstaltungen mit ihren Studierenden in der Heimat vorzubereiten und sie gleichzeitig ins hiesige Institutsleben einbinden, sagt Mihai Varga, wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Soziologie.

Seine beiden Kolleginnen wollen sich am OEI einbringen – und dazu beitragen, dass die Osteuropaforschung ihren Blick mehr und mehr auch auf Länder jenseits Russlands richtet. „Jetzt müssen die Ukrainestudien gestärkt werden.“

Die Themen, die sie mitbringen, könnten aktueller nicht sein: Kostiuchenko hat zur ukrainischen Sprachenpolitik, zur Identitätsbildung und zur Rolle der Parteien nach der orangenen Revolution von 2003/2004 publiziert. Martsenyuk arbeitet über Gender-Politiken in der postsowjetischen Ukraine, über Frauen beim Euromaidan, der proeuropäischen Bewegung von 2013/14, und über Kämpferinnen im Krieg um die Ostukraine.

„Die Ukraine braucht Widerstand, Waffen, Befreiung“

Die Soziologinnen erleben Berlin als Kriegsflüchtlinge mit gemischten Gefühlen – und immer auch mit einem professionellen Blick. Aus ihrer temporären Unterkunft gehen sie am ersten Wochenende zur Solidaritätsdemo zwischen Brandenburger Tor und Großem Stern – und sehen auf den Plakaten viele Friedenstauben und Appelle an Putin, den Krieg zu stoppen.

„Wir empfinden das als falsch, denn wir kommen aus einer Stadt, die bombardiert wird“, sagt Kostiuchenko. „Die Ukraine braucht keine Friedensappelle, sondern Widerstand, Waffenlieferungen und Befreiung“, ergänzt Martsenyuk. Der Wille zum Widerstand wachse bei ihren Landsleuten, bei Männern wie bei Frauen.

Nach aktuellen Umfragen seien insgesamt 75 Prozent bereit, die Ukraine mit der Waffe zu verteidigen. „Die Mobilisierung der Frauen hat schon nach dem Euromaidan und während des Krieges im Donbass begonnen“, so Martsenyuk. Ihren zivilgesellschaftlichen Einsatz würden sie nicht erst jetzt auf die Kriegssituation übertragen.

Im Westen werden auch die Frauen bewundert, die mit ihren Kindern und oft mit ihren Eltern fliehen und ihr Leben auf sich allein gestellt neu organisieren. Das Kümmern und die familiäre Logistik sei die traditionelle Rolle der Frau in der Ukraine, kontert Martsenyuk.

Die Integrationsfähigkeit der westlichen Gesellschaften müsse sich jetzt aber daran beweisen, ob sie für die Frauen Sprachkurse mit Kinderbetreuung organisieren. Und ob sie ihnen dann auch qualifizierte Jobs vermitteln, mit denen die Frauen ihre Familien ernähren können.

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