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In Form gebracht. Dieser Kristall wurde für das „Avogadro-Projekt“ gezüchtet. Die Daten waren aber zu ungenau, um das Kilo zu definieren. Nun folgt ein neuer Versuch.

© IKZ/Turschner

Ablösung für das Ur-Kilo: Die perfekte Masse

Berliner Forscher züchten einen extrem reinen Siliziumkristall. Er soll helfen, das Kilogramm exakt zu definieren. Damit würde der berühmte Zylinder in Paris überflüssig.

Ziemlich unscheinbar sieht die längliche Kiste aus, die am Freitag am Institut für Kristallzüchtung (IKZ) in Berlin-Adlershof eingetroffen ist. Schwer zu glauben, dass der Inhalt so wertvoll sein soll, wie Nikolai Abrosimov behauptet. Ein grauer, metallisch glänzender Stab liegt darin, ungefähr sechs Kilogramm schwer. Doch Physiker auf der ganzen Welt setzen große Hoffnungen in das Stück. Es ist der Rohstoff, der es ihnen ermöglichen soll, ein Kilogramm genauer als je zuvor zu definieren. Abrosimov soll ihn veredeln.

Der Stab besteht zu 99,995 Prozent aus Silizium-28, einem der drei Isotope von Silizium. Isotope sind Atome ein und desselben Elements, die sich nur in der Anzahl der Neutronen unterscheiden. Der graue Stab hat eine lange Reise hinter sich, von Sibirien über Nischni Nowgorod nach Berlin. Das Material wurde in monatelanger Feinarbeit hergestellt. Zunächst wurde das begehrte Silizium-28 aus dem Gemisch der drei Isotope in Form gasförmigen Siliziumtetrafluorids angereichert, das zu Silan (Siliziumwasserstoff) umgewandelt und dann kristallisiert wurde.

Das Rohmaterial ist zehnmal mehr wert als Gold

Nach der aufwendigen Herstellung sei das Material „zehnmal mehr wert als Gold“, sagt Abrosimov. Der russische Physiker arbeitet seit 21 Jahren in Adlershof und kann als Experte für die schwierigsten Fälle der Kristallzüchtung gelten. Er und sein sechsköpfiges Team sollen das Material, das bisher aus einem Mosaik vieler kleiner Kristalle besteht, in einen großen Einkristall verwandeln: Wie bei einem gewaltigen dreidimensionalen Schachbrett nehmen die Atome darin bestimmte Positionen ein und es entsteht ein räumliches Gitter.

Wenn in dem Einkristall keine Verunreinigungen durch Fremdatome wie Kohlenstoff oder Sauerstoff mehr nachweisbar sind, wenn die Silizium-28-Isotope der Kristallstruktur gehorchend am richtigen Platz stehen, wird er nach Braunschweig an die Physikalisch-Technische Bundesanstalt (PTB) geschickt. Dort werden aus dem Stab zwei Kugeln geschliffen.

Das Kilogramm soll endlich über eine Naturkonstante definiert werden

Sie sollen eine neue Definition des Kilogramms ermöglichen, der einzigen grundlegenden Einheit im internationalen Maßsystem (SI), die nicht – wie die sechs anderen – durch Naturkonstanten festgelegt ist. So ist etwa das Meter mit der Lichtgeschwindigkeit verknüpft. Derzeit dient das Urkilogramm in Paris als Bezugsgröße, ein 39 Millimeter hoher und ebenso dicker Zylinder. Er besteht aus einer Legierung von 90 Prozent Platin und zehn Prozent Iridium, beides Substanzen, die kaum chemisch miteinander reagieren. Die Masse des Urkilos sollte also unveränderbar sein. Kopien des Urkilogramms sind weltweit verteilt. Mittlerweile gibt es jedoch Differenzen von mehr als 50 Mikrogramm (millionstel Gramm) zwischen Urkilo und Kopien, ohne dass man genau weiß, warum. Dies treibt die Suche nach einer neuen Definition der Masse an, die auf unveränderbaren Einheiten beruhen soll.

Atome zählen ist schwierig

Ein vielversprechender Ansatz nimmt Bezug auf das Mol. Es enthält salopp gesagt so viele Teilchen, wie es die Avogadro-Konstante ausdrückt. Sie gibt das Verhältnis aus der Masse eines Mols und der Masse eines der darin enthaltenen Atome an – gleichgültig, um welchen Stoff es sich handelt. Kennt man nun die Zahl der Atome in einem bestimmten Volumen, so lässt sich über die Avogadro-Konstante die Masse ausrechnen. Um das Kilo für alle Zeiten gültig zu definieren, müsste man also einen Körper herstellen, der beispielsweise so viele Silizium-28-Atome enthält, dass ihre Masse exakt ein Kilo ausmacht.

Das Atomezählen ist jedoch schwierig. Man benötigt einen perfekten Kristall mit nur ein und derselben Sorte an Atomen. Daran werden die Gitterkonstante, also der durchschnittliche Abstand der Atome, sowie das Volumen bestimmt. Dann hängt alles an der Avogadro-Zahl. Ihr Wert ist derzeit mit 6,02214129 mal 10 hoch 23 bekannt. Um als SI-Bezugsgröße zu dienen, darf die Unsicherheit nur sehr klein sein: Alle Messungen zusammengenommen müssen bis auf zwei Hundertmillionstel genau sein. Anders ausgedrückt, darf man sich bei 100 Millionen Atomen nur um zwei verzählen. Das ist bisher keinem gelungen. Nun startet ein neuer Versuch.

Die Schmelze schwebt, das verhindert Verunreinigungen

Als Zählobjekt bieten sich Silizium-28-Kugeln an, die aus einem Einkristall bestehen. Um diesen herzustellen, nutzt das IKZ das „Floating-Zone-Verfahren“. Das Besondere der zwei Meter hohen Apparatur ist, dass die Schmelze in einem Hochfrequenzfeld frei schwebt. Somit entfällt der sonst übliche Schmelztiegel, der zu Verunreinigungen mit Fremdatomen führen kann. Unter Vakuum und schützendem Edelgas schmilzt das Silizium bei etwas über 1400 Grad.

Der Kristallograf Günter Wagner erklärt, wie der an einem Halter befestigte Stab aufgeschmolzen wird, worauf sich unten eine Schmelznase bildet, auf die ein Keim aus einkristallinem Silizium gesetzt wird. Sobald das polykristalline Silizium ein wenig nach unten gezogen wird, kühlt die Schmelze ab. „Die Atome verlieren Energie und wollen sich irgendwo hinlegen“, erläutert Wagner. „Das müde Atom findet nun im Keim freie chemische Bindungen, an die es andockt.“

Der erste Versuch lieferte nicht die erwünschte Genauigkeit

Atom um Atom wächst der Keim. Unten kristallisiert Silizium aus, von oben kommt Nachschub durch das Schmelzen des Vorratsstabes, etwa drei Millimeter pro Minute. Insgesamt dauert es fünf Stunden, bis der 85 Zentimeter lange Stab einmal geschmolzen ist. „Dann analysieren wir, ob der Kristall rein genug ist“, sagt Abrosimov. Es wird so oft geschmolzen, bis kein Fremdatom mehr nachweisbar ist.

Ein Prototyp liegt bereits auf dem Tisch. Er ist dunkelsilbern glänzend und sieht aus wie eine kleine Rakete. „Das ist ein Trainingskristall von 2007“, sagt Abrosimov. Damals lief das „Avogadro-Projekt“, an dem sich auch Arbeitsgruppen aus Australien, Belgien, Frankreich, Italien, Japan und den USA beteiligten. Der am IKZ gefertigte Einkristall wurde an der PTB zersägt. An kleineren Teilen wurden alle wichtigen Eigenschaften des Materials gemessen, die beiden größten Stücke wurden in Sydney ein halbes Jahr lang zu zwei Kugeln von je einem Kilogramm Masse und knapp zehn Zentimeter Durchmesser geschliffen.

Nun wird das Projekt als rein deutsches fortgesetzt

Dann wurde auf Kristallfehler und Verunreinigungen geprüft, Masse und Volumen extrem genau bestimmt. Das 2011 veröffentlichte Ergebnis brachte zwar den bisher genauesten Wert der Avogadro-Konstante. Doch die Unsicherheit betrug 3 mal 10 hoch minus 8, das sind drei Hundertstelmillionstel, und lag damit über der Grenze, die die CGPM, die Generalkonferenz für Maß und Gewicht in Paris, festgelegt hatte. Zu viel für eine präzise Definition des Kilogramms.

Jetzt beim zweiten Anlauf ist es ein rein deutsches Projekt namens „Kilogramm 2“. Es soll endlich die erforderliche Genauigkeit erzielen und dem Kilogramm zu einer neuen Definition verhelfen. Abrosimov glaubt an den Erfolg, er und seine Kollegen hätten viel geübt, sagt er. Die nächsten Monate werden zeigen, ob es ihnen gelingt, den perfekten Kristall zu schaffen.

Paul Janositz

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