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Ein Grab aus dem 5. Jahrtausend aus der Siedlung von Alsónyék.

© A. Osztás

8000 Jahre Balkanroute: Ausgrabungen offenbaren Migrationsroute der ersten Bauern nach Westeuropa

Im Karpatenbecken erforscht die Römisch-Germanische Kommission die Ursprünge der Sesshaftwerdung in Europa.

Der Ursprung lag an der Autobahnstrecke M6. Sie verbindet die ungarische Hauptstadt Budapest mit der Stadt Pécs im Süden, zumeist entlang der Donau. 2006 wurde, vor dem Bau einer Teilstrecke bei der Gemeinde Alsónyék, die Archäologin Eszter Bánffy mit Rettungsgrabungen beauftragt. Sie war damals stellvertretende Direktorin des Archäologischen Instituts der Ungarischen Akademie der Wissenschaften (UAdW), seit 2013 leitet sie die Römisch-Germanische Kommission (RGK) des Deutschen Archäologischen Instituts (DAI).

In Alsónyék, westlich der Donau, vermuteten Bánffy und ihr Team Überreste neolithischer Siedlungen. Ähnliche Zeichen des ersten sesshaften bäuerlichen Lebens in Europa hatten sie schon auf der östlichen Seite des Flusses ausgegraben.

Doch Alsónyék wurde in mehrfacher Hinsicht eine Überraschung: Sie fanden Reste einer Siedlung, die zwischen 5800 und 4500 v. Chr. 1300 Jahre lang bestand und ein Feld mit rund 2400 Gräbern.

Mehr als 300 Radiokarbondaten, die anhand der Methode der Bayesschen Statistik modelliert wurden, ermöglichten eine feine, auf Jahrzehnte genaue Chronologie, mit der selbst einzelne Generationen unterschieden werden können. Um 4730 vor Christus wies die Siedlung so eine Ausdehnung von 80 Hektar und eine Bevölkerung von mehreren tausend Einwohnern auf – bislang beispiellos.

Ein Idolbruchstück aus der ersten Phase der Neolithisierung, 5800-5600 v. Chr.
Ein Idolbruchstück aus der ersten Phase der Neolithisierung, 5800-5600 v. Chr.

© F. Dénes

„Solche Mega-Sites aus der späteren Urgeschichte kannten wir davor nur aus der heutigen Ukraine und der Republik Moldawien“, sagt Bánffy. 2017 wurde ihr Projekt als eins der zehn besten beim Shanghai World Archaeology Forum prämiert.

„Eins zu eins die Migrationsroute von 2015“

Diese Funde zementierten eine Vermutung, die Bánffy schon bei früheren Ausgrabungen beschäftigte: Die bedeutende Rolle Transdanubiens, der Region westlich der Donau im heutigen Ungarn, bei der „Neolithisierung Europas“, also der Sesshaftwerdung der Menschen.

Oft als revolutionäres und plötzliches Ereignis in der Prähistorik dargestellt, fand Bánffy dagegen einen uneinheitlich verlaufender Prozess, bei dem das Netzwerk zwischen verschiedenen Kulturen eine aktive Rolle spielte.

Die Umstellung vom Jäger-und-Sammlertum zum Ackerbau nahm ab dem 10. Jahrtausend v. Chr. ihren Ursprung im Nahen Osten. Es dauerte mehrere tausend Jahre bis die ersten Bauern über den Zentral- und Nordbalkan schließlich Transdanubien erreichten.

Heutigen Lesern ist die Strecke bekannt: „Die Route der Neolithisierung Europas war nahezu eins zu eins die Migrationsroute von 2015“, sagt Bánffy.

Ein Grab aus dem 5. Jahrtausend, Siedlung von Alsónyék.
Ein Grab aus dem 5. Jahrtausend, Siedlung von Alsónyék.

© A. Osztás

Die genetische Analyse von 30 Skeletten aus der Ausgrabung zeigte Bánffy, dass Gruppen aus dem Südosten in die Region um Alsónyék eingewandert waren. Sie formten Netzwerke mit anwesenden mesolithischen Jäger-und-Sammlerkulturen und spielten eine Schlüsselrolle bei der Formulierung der Kultur der Linearbandkeramik (LBK), die den Übergang vom frühen zum mittleren Neolithikum markierte.

Später brachten sie die LBK-Kultur nach Mähren und bis ins heutige Deutschland. „Diese Migration lief in nur wenigen Generationen, innerhalb von 100 bis 150 Jahren ab“, sagt Bánffy.

Mobilität und Netzwerke als Schwerpunkt ihrer Arbeit

„Das Karpatenbecken ist schon immer eine Rührschüssel verschiedener Kulturen gewesen“, beschreibt Bánffy die größere geografische Region, in der auch das heutige Ungarn liegt. Fluktuation, Völkerwanderung, Verschmelzung sei hundertprozentig typisch für die Region. „In den letzten 8000 Jahren besteht die ganze Geschichte des Karpatenbeckens aus nichts anderem als Mobilität.“

Mobilität und Netzwerke sind auch Bánffys Schwerpunkt als Direktorin der RGK. Sie ist die erste Frau und erste Nichtdeutsche auf diesem Posten, seit Gründung der Kommission vor 117 Jahren. Die RGK konzentriert sich auf Vor- und Frühgeschichte der Gegend rund um den römischen Limes.

Heute reicht die Spanne der Projekte, die sie fördert, von den Orkney Islands bis zum Balkan. Bánffy ist es wichtig, Forschungsnetzwerke weiter zu stärken und zu internationalisieren, besonders die themen- und epochenübergreifende Zusammenarbeit.

Unabhängige Forschung? In Europa nicht mehr selbstverständlich

Starke Netzwerke machen Forschung nicht nur ergebnisreicher, sondern auch unabhängiger. Das ist in Europa nicht mehr überall eine Selbstverständlichkeit. 2013 verließ Bánffy Ungarn, weil sie „keine Möglichkeiten mehr hatte“, ihre Projekte nicht unterstützt wurden. Auch die Aufarbeitung der Ausgrabungen von Alsónyék sei nur durch Gelder der RGK ermöglicht worden.

Heute, sechs Jahre später, hat die Regierung die Kontrolle über die Akademie-Institute übernommen. Migrationsforschung, ob zeitgenössisch oder prähistorisch, passt schlecht in das System Orbán.

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