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Junge Frauen stehen am Zaun der KZ-Gedenkstätte Buchenwald vor dort abgelegten Blumengebinden.

© imago images/Jacob Schröter

75. Jahrestag der Befreiung der Konzentrationslager: Lebendiges Erinnern in der Krise

Abgesagte Befreiungsfeiern geben Raum, um über Erinnerungskultur nachzudenken. Das sei gerade deshalb nötig, weil vieles erreicht wurde, meint unser Gastautor.

Die deutschen Gedenkstätten für die nationalsozialistischen Verbrechen sind aktuell wegen der Corona-Pandemie für die Öffentlichkeit geschlossen und müssen deshalb auch ihre Befreiungsfeiern ausfallen lassen. Das sind normalerweise die zentralen Veranstaltungen, bei denen sich die von den Alliierten 1945 befreiten Insassinnen und Insassen mit der heutigen Gesellschaft treffen.

Sie sind wichtige Symbole des Erinnerns, stärken die Aufmerksamkeit für die Vergangenheit und ehren das Andenken der Opfer – umso mehr, als es sich 2020 um 75. Jahrestage handelt. Doch die letzten, hochbetagten Überlebenden werden nicht mehr lange unter uns sein.

Wir verlieren damit auch emotionale Zugänge für die Nachgeborenen, die nicht leicht zu ersetzen sind. Zugleich wachsen Geschichtsvergessenheit und neurechte Tendenzen, die auf die dringlichen Herausforderungen der Viruskrise treffen.

Ist 2020 also das Jahr, in dem wir der Opfer und der Überlebenden genug gedacht haben, in dem die Vergangenheit bewältigt ist? „Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung“, sagte Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985. Er hat das durchaus normativ verstanden, als eine Aufforderung, sich von der Last der Geschichte zu befreien. Seine Deutungsangebote waren teils rechtskonservativ, beispielsweise wenn er das Ende des von Deutschland begonnenen Zweiten Weltkriegs als „Europa, das sich ausgekämpft hat“ interpretierte.

Aber er wollte das Kriegsende auch als Befreiung verstanden wissen und nicht mehr nur als Niederlage, was für die damals regierende CDU Helmut Kohls durchaus nicht selbstverständlich war.

[Stephan Lehnstaedt ist Professor für Holocaust-Studien am Touro College Berlin.]

Es ging Weizsäcker nicht zuletzt darum, gewissermaßen einen inneren Frieden zu machen und Deutschlands Erinnerungskultur der der westlichen Partner anzunähern, um endlich das Odium des Nationalsozialismus abzulegen. Die aufsehenerregende Rede gilt bis heute als Meilenstein. Und das ist sie zweifellos – aber nicht, weil sie so revolutionär gewesen wäre, sondern vielmehr, weil wir uns seitdem wirklich mit der Vergangenheit arrangiert haben.

Das Gedenken an den Nationalsozialismus wollten anfangs vor allem die Opfer aufrechterhalten. Das erste, ganz bescheidene Gedenken fand an den ehemaligen Tatorten statt und ging meist auf die Initiative von Überlebenden zurück. Später war es das Aufbegehren der 68er-Generation, die eine kritischere Betrachtung der Geschichte einforderte. Ausstellungen, Dokumentationen und erste Gedenkstätten entstanden aus zivilgesellschaftlichem Engagement heraus, getragen von wenigen, und zunächst ohne staatliche Finanzierung.

Die Schoah hat ihren festen Platz im Erinnerungskanon

Aber immer mehr junge Lehrerinnen und Lehrer besuchten mit ihren Klassen diese Orte, der Nationalsozialismus wurde im Schulunterricht mehr und mehr berücksichtigt, Medienereignisse wie die US-Fernsehserie „Holocaust“ erregten Aufsehen. In den 1980ern war nicht mehr zu übersehen, dass sich unser Gedenken tatsächlich wandelte – und Weizsäcker vollzog mit seiner Rede die staatliche Anerkenntnis dieser Umwälzung.

Seitdem sind 35 Jahre ins Land gegangen. Die Schoah hat inzwischen ihren festen Platz im Erinnerungskanon der Bundesrepublik. In Berlin gibt es mit dem Denkmal für die ermordeten Juden Europas sogar einen prominenten Ort dafür – der wie so vieles nur dank zivilgesellschaftlicher Initiative entstand.

Als Björn Höcke ihn 2017 als „Denkmal der Schande“ bezeichnete, war der Protest groß – und durchaus aufrichtig. Bemerkenswert aber waren die Untertöne, denn nicht wenige Kommentatoren betonten ihren Stolz auf dieses Mahnmal und unsere Geschichtskultur.

Im Ausland gilt Deutschland schon längst als „Vergangenheitsbewältigungsweltmeister“, und immer wieder zeigen sich unsere Nachbarn verärgert über besserwisserische Empfehlungen zum Umgang mit ihrer Historie.

Wir treten – durchaus erfolgreich – als Lehrmeister Europas auf, was exemplarisch das Brüsseler Haus der Europäischen Geschichte zeigt, das offizielle EU-Museum zur gemeinsamen Vergangenheit der Union: Es präsentiert den Umgang mit dem Holocaust als Quintessenz europäischen Geschichtsbewusstseins und macht die Anerkenntnis eigener Schuld zum Qualitätsmerkmal der Mitgliedsstaaten.

Die Opfer aber drohen zur gesichtslosen Masse zu werden

Der von der AfD propagierte „Schuldkult“ wendet sich damit ins Positive und wird, wegen unserer Pionierstellung, zum neuen deutschen Nationalstolz. Das ist wirklich die „Erlösung durch Erinnerung“ und vielleicht sogar die Vergebung der Sünden, weil Vertreter der Bundesrepublik, wie zuletzt bei den Befreiungsfeiern für Auschwitz am 27. Januar, prominente Rollen spielen. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier etwa hielt souveräne Reden, ohne sich in die Niederungen des Gedenkstreits zwischen Polen, Israel und Russland zu verirren.

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Im Spektakel behielt Deutschland seine Würde und konnte zufrieden mit sich und seiner Vergangenheit sein.

Doch wenn die Millionen von Toten nicht mehr aufrütteln, nicht mehr beunruhigen und nicht mehr Anlass für eine kritische Auseinandersetzung sind, dann verkommt die Erinnerung zum inhaltsleeren Ritual und stirbt ab: Die Opfer werden zur amorphen, gesichtslosen Masse, die uns genauso wenig wie die Mörder und ihre Taten wirklich betrifft.

[Wie es um die Erinnerungskultur in Deutschland bestellt ist, zeigte vor einem Jahr eine repräsentative Umfrage: "Wer sich mit der Nazizeit beschäftigt, zeigt mehr Zivilcourage"]

Die abgesagten Befreiungsfeiern sollten deshalb umso mehr Anlass sein, über diese Entwicklung nachzudenken – anstatt die Pandemie als Ausrede und Katalysator dafür zu nutzen.

Die Erfahrung des Nationalsozialismus als Staatsräson ernst zu nehmen heißt, das Gedenken daran lebendig zu halten. Das gelingt nur dann, wenn es eine gesellschaftliche und persönliche Relevanz hat, die weder Wissenschaft noch Politik verordnen können. Es gilt, das Postulat nicht lediglich als Mantra zu wiederholen, sondern mit Leben zu füllen. Das bedeutet zuvorderst die Diskussion um die angemessenen Formen und Inhalte der Erinnerung.

Die Beschäftigung mit der Nazizeit sollte alles andere als bequem sein

Beispielsweise ist die Frage zu stellen, wer zum Gedenkkanon gehört: Sind das nur diejenigen Gruppen, die in Berlin mit eigenen Mahnmalen vertreten sind – oder auch die Millionen „vergessener“ Opfer wie etwa sowjetische Kriegsgefangene, die nichtjüdischen Toten und ZwangsarbeiterInnen des besetzten Europas oder die sogenannten Asozialen und Berufsverbrecher, um nur einige zu nennen?

Was ist mit den Heldinnen und Helden, die unter Einsatz ihres eigenen Lebens den Verfolgten halfen und damit allen anderen den Spiegel vorhielten? Und wie steht es mit der eigenen Täterschaft, dem Fakt, dass die deutsche Gesellschaft den Nationalsozialismus wollte und Hitler freudig in den Krieg und zum Genozid folgte?

Die Beschäftigung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit sollte alles, aber nicht bequem sein. Anstatt Selbstzufriedenheit braucht es mehr konkretes Wissen; anstatt einer nationalen braucht es eine konsequent europäische Perspektive; und nicht zuletzt bedarf es Geld, damit zivilgesellschaftliche Initiativen und Gedenkstätten entsprechende Angebote machen können.

Die Nachfrage ist vorhanden, aber an Kompetenz in der Breite mangelt es ebenso wie an Zeit in den Schulen. Und viele Informationsangebote beschränken sich auf reine Erwachsenen- oder Seniorenbildung, einfach weil es zu wenige zeitgemäße Vermittlungsformen gibt. Angesichts dessen nach Social Media und Digitalisierung zu rufen, ändert daran wenig: Erstens gibt es das nicht umsonst, zweitens muss es mit professionellen Inhalten gefüllt werden. Und es geht durchaus „analog“, was oft sogar zu bevorzugen ist, aber dafür müsste der Staat beispielsweise Pädagogenstellen an den Gedenkstätten finanzieren, Lehrpläne ändern oder in die akademische Ausbildung der künftigen Mittlerinnen und Mittler investieren.

Positiv gewendet ist Gedenkkultur das, was uns heute angesichts der Vergangenheit verbindet. Deren Relevanz gilt es immer neu zu entdecken und neu zu definieren – sogar die der Jahre 1933 bis 1945, die gegenwärtig mehr denn je in Frage gestellt wird. Dass es den einen, richtigen Umgang damit gibt, darf bezweifelt werden. Es ist ein schmaler Grat zwischen Staatsverständnis und Nationalismus.

Stephan Lehnstaedt

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