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Landeszentrale für politische Bildung (im Amerikahaus), Hardenbergstraße 22-24, 10623 Berlin.

© Kai-Uwe Heinrich

60 Jahre in Berlin: Landeszentrale für politische Bildung will AfD kein Podium geben

Flüchtlinge, Politikverdrossenheit, Rechtspopulismus: Berlins Landeszentrale für politische Bildung lässt kein kontroverses Thema aus - doch die AfD will sie vorerst nicht zu Veranstaltungen einladen.

„Kennst Du die schon?“, fragt ein Plakat vor dem Amerika-Haus in der Hardenbergstraße. Aufgestellt hat es die Landeszentrale für politische Bildung, die vor einem Dreivierteljahr als Nachbarin der Fotogalerie CO Berlin in den 50er-Jahre- Bau am Bahnhof Zoo gezogen ist – und sich dort neu erfindet. Lange Jahre war sie in einem düsteren Verwaltungshochhaus An der Urania, Ecke Kurfürstenstraße versteckt.

Dort gab es kaum Platz für Veranstaltungen, wenig einladend auch die verschachtelten Räume der Buchausgabe. Am neuen Standort ist die Landeszentrale sichtbarer: Durch die Panoramascheibe zur Straße hin blickt man in einen großen, hellen Raum, gesäumt von Regalen mit Büchern zur Berlin-Geschichte, Comics zur Mauerzeit oder Texten zur NS-Zeit, die hier für eine geringe Gebühr abgegeben werden.

Politische Bildung im Amerika-Haus: zurück zur Reeducation

Dass das Amerika-Haus attraktiver ist als die alte Bleibe, zeigen auch die Besucherzahlen, die sich seit dem Umzug verdoppelt haben, wie Thomas Gill berichtet, seit 2014 Leiter der Landeszentrale. Er will an die Bildungs- und Begegnungstradition des 1957 eröffneten und 2006 geschlossenen Amerika-Hauses anknüpfen. Die Landeszentrale wurde offiziell ein Jahr zuvor gegründet – vor 60 Jahren, per Senatsbeschluss vom 6. November 1956. Am 8. November wird mit geladenen Gästen gefeiert. Verbunden sind beide Institutionen durch den Reeducation-Gedanken, aus dem sie hervorgingen.

Zu sehen ist ein Büchertisch, im Hintergrund ein langes Regal, vor dem eine Besucherin steht.
Aufklärend. Die Buchausgabe der Berliner Landeszentrale bietet ein breites Spektrum an Werken zur Berliner Geschichte und Politik.

© Kai-Uwe Heinrich

Die Frage, wie man aus Deutschen Demokraten macht, hatte sich unmittelbar nach der „Stunde Null“ im Mai 1945 gestellt. Die Entnazifizierung, bei der es darum ging, NS-Täter zu bestrafen und von den „Mitläufern“ zu unterscheiden, war das Pflichtprogramm der Alliierten. Doch die westliche Seite plante von vornherein auch, Deutschland in europäische und transatlantische Bündnisse zu integrieren. Die dafür notwendige „Umerziehung“ konnte aber nur Erfolg haben, wenn die Deutschen selber mitwirkten.

Später Start in Berlin - 1958 - nach Hakenkreuzschmierereien

Sie nannten es „politische Bildung“, und neben den ersten Uni-Instituten und der 1952 gegründeten Bundeszentrale für politische Bildung entstanden – ganz im Sinne des bundesrepublikanischen Föderalismus – elf Landeszentralen. Die erste eröffnete schon 1946 in Nordrhein-Westfalen, bis 1957 folgten die übrigen Länder. Der Auftrag für alle lautete, die Deutschen nach dem Zusammenbruch der Hitler-Diktatur mit der parlamentarischen Regierungsform und den Segnungen der Demokratie vertraut zu machen.

In Berlin vergingen nach dem Senatsbeschluss erst einmal zwei Jahre ohne Aktivitäten der Landeszentrale. Doch 1958 sollte plötzlich alles sehr schnell gehen, nachdem vermehrt Hakenkreuzschmierereien aufgetaucht waren. Die Berliner Landeszentrale eröffnete im Nordsternhaus, dem Sitz der Justizbehörde in unmittelbarer Nähe des Rathauses Schöneberg, zunächst als Abteilung der Senatskanzlei; später kam sie zur Schulverwaltung.

Erste Seminare für Lehrer und Lehrerinnen - und für Polizeibeamte

Zu ihren ersten Aktivitäten gehörten Fortbildungen für Lehrer und Lehrerinnen – und für Polizeibeamte. „Es galt, den antitotalitären Konsens zu festigen“, sagt Berlins ehemaliger Schulsenator Klaus Böger. Das hieß zum einen, den Multiplikatoren den grundlegend verbrecherischen Charakter des Nazi-Systems jenseits aller Mythen über die angeblich guten Seiten der Hitler-Zeit klarzumachen. Zum anderen wollte man sie in der Frontstadt der Ost-West-Konfrontation gegen den Sowjetkommunismus immunisieren. Die Seminare in Zusammenarbeit mit dem Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft (OSI) an der Freien Universität waren von Schriftenreihen flankiert, die sich an alle Berliner richteten.

Feuerwehrfunktion: Wenn es brennt, ruft man nach politischer Bildung

Klaus Böger, heute Präsident des Landessportbunds, ist in mehrfacher Hinsicht Zeitzeuge für die Geschichte der Landeszentrale. Der heute 71-Jährige war als OSI-Student Anfang der 70er Jahre Praktikant im Nordsternhaus, schrieb seine Diplomarbeit über die Landeszentrale und „träumte davon, einmal ihr Chef zu werden“. Indirekt klappte das erst 1999, als Böger Bildungssenator wurde und damit Dienstherr der Landeszentrale.

Eine These aus seiner Diplomarbeit ist Böger noch gut im Gedächtnis – die von der „Feuerwehrfunktion“: Wenn es brennt, wird nach der politischen Bildung gerufen. Wie in der Zeit der Studentenunruhen, als sich die Landespolitik einen mäßigenden Einfluss auf die revoltierende junge Linke wünschte. „Die Landeszentrale sah sich aber nicht als Wortführerin für oder gegen die Proteste, sie hat nur getreulich die Positionen dargestellt“, sagt Böger.

Was in der Gesellschaft kontrovers ist, muss kontrovers dargestellt werden

Als Selbstschutz gegen die Indienstnahme durch die jeweils Regierenden einigten sich die Landeszentralen 1976 auf Grundsätze, die bis heute gelten: auf das Überwältigungsverbot, nach dem die Teilnehmenden nicht indoktriniert werden dürfen, auf das Kontroversitätsgebot – was in der Gesellschaft kontrovers ist, muss auch so dargestellt werden – und auf das Ziel, die Lernenden zu befähigen, die politische Situation zu analysieren und ihre Interessen wahrzunehmen.

Ein Mann steht vor einem Bücherregal und schaut in die Kamera.
Skeptisch. Thomas Gill, Leiter der Landeszentrale für politische Bildung, fragt: „Zu welchen Themen kann die AfD wirklich etwas beitragen?“

© null

Wie passt das zum Programm der „neuen“ Berliner Landeszentrale? Von den aktuell kontroversen Themenfeldern zwischen Flüchtlingskrise, Politikverdrossenheit und Rechtspopulismus jedenfalls lässt sie keines aus: Es laufen dort Workshops für Lehrkräfte in Willkommensklassen, Diskussionen etwa über „gesellschaftlichen Zusammenhalt im Kontext von Flucht, Migration und Ausgrenzung“ und Seminare, in denen Elternvertreter beraten werden. Und zum 60. Jahrestag treffen sich Akteure der politischen Bildung in der Hardenbergstraße, um über mögliche Modelle des Umgangs mit dem Rechtspopulismus zu sprechen (zur Homepage der Landeszentrale u.a. mit den aktuellen Veranstaltungen und verfügbaren Buchtiteln geht es hier).

"Besorgten Bürgern" will Gill - anders als Sachsen - kein Forum bieten

Mit den Rechtspopulisten selber zu sprechen, AfD-Vertreter in Veranstaltungen einzubeziehen – das ist für den Leiter der Landeszentrale trotz des Kontroversitätsgebots nicht zwingend. „Zu welchen Themen kann die AfD wirklich etwas beitragen?“, fragt Thomas Gill zurück. Er wolle erst einmal abwarten, „welche politischen Schwerpunkte die AfD setzt und wie relevant die für die Debatten der Stadt sind“. Der Umgang mit den neuen Rechten ist unter den Landeszentralen ohnehin umstritten, wobei die Sachsen bislang die Einzigen sind, die auch „besorgten Bürgern“ ein Forum bieten.

Die Feuerwehrfunktion der politischen Bildung und der Berliner Landeszentrale liegt derzeit jedenfalls auf der Hand. Ähnlich gefragt war sie zuletzt nach der Wende von 1989/90, als es galt, die DDR-Bevölkerung nach dem Ende der zweiten deutschen Diktatur mit der freiheitlichen Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik bekannt zu machen.

Anfang der Nullerjahre schien die Demokratie gewonnen zu haben

1991 entstanden auch in den fünf Neuen Ländern Landeszentralen. Und das Berliner Haus übernahm es gemeinsam mit der Bundeszentrale, DDR-Lehrkräfte für Staatsbürgerkunde zu Sozialkundelehrern umzuschulen. Federführend war dabei OSI-Professor Peter Massing, der die 80er und frühen 90er Jahre als die intensivste Phase für die Landeszentrale erinnert.

„Doch dann verschwand sie aus dem Blickfeld“, sagt Massing. „Nach dem Ende der Ost-West-Auseinandersetzung war man sicher, dass die Demokratie gewonnen hatte.“ Das galt nicht nur in Berlin, wo der Etat der Landeszentrale ab 2006 heruntergefahren wurde. In Niedersachsen wurde die Zentrale 2004 sogar geschlossen. Im kommenden Jahr soll sie aber wieder eröffnen: Damit reagiere man auf gesellschaftliche Herausforderungen wie Rechtsextremismus, Politikverdrossenheit und Islamophobie, heißt es.

Heute ist demokratisches Grundwissen "teilweise nicht mehr vorhanden"

Braucht Deutschland eine neue Reeducation, weil so vielen das Vertrauen in die Politik und ihre Institutionen abhandengekommen ist – und der Wille, die Demokratie im eigenen Land zu verteidigen? Unbedingt, sagt Sabine Achour, Professorin für Politik-Didaktik am Otto-Suhr-Institut: „Nicht nur in bildungsfernen Milieus, auch in der Mittelschicht hat sich der Politikbegriff dramatisch verengt, Grundwissen ist teilweise nicht mehr vorhanden.“ In einer „breiten politischen Bildungsoffensive“ müssten die aktuellen Kontroversen und die neue deutsche Pluralität als schützenswerte Realität begreifbar werden.

Aufsuchende politische Bildung - um politikferne Milieus zu erreichen

„Kennst du die schon?“: Die Frage auf dem Plakat meint nicht die Landeszentrale, sondern die Berliner Verfassung, die in einer Open-Air-Ausstellung an der Hardenbergstraße erklärt wird. Auch das gehört zum neuen Programm, das Thomas Gill als „aufsuchende politische Bildung“ beschreibt. Geplant sei, gemeinsam mit Kooperationspartnern im Kiez Multiplikatoren aus den verschiedenen Communities auszubilden. Sie sollen politische Bildung zu jenen bringen, die ansonsten nur schwer zu erreichen sind.

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