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Zahlreiche Menschen spazieren durch die Fußgängerzone in der Innenstadt.

© Sven Hoppe/dpa

350er-Inzidenz zu Ostern?: Was den Corona-Modellierern exakte Vorhersagen unmöglich macht

Wissenschaftler modellieren seit Pandemie-Beginn Szenarien. Stellen sie sich später als falsch heraus, hagelt es Kritik. Über die Grenzen der Berechnungen.

Das Fraunhofer-Institut für Techno- und Wirtschaftsmathematik (ITWM) erforscht seit Monaten die Covid-19-Ausbreitung in Deutschland. So begleiteten die Wissenschaftler unter anderem die Stadt Kaiserslautern und eine umliegende Verbandsgemeinde bei deren Öffnungs- und Teststrategien: „Selten zuvor wurden wissenschaftliche Erkenntnisse so schnell zur Grundlage politischer Entscheidungen“, betont Fraunhofer-Wissenschaftler Jan Mohring.

Was im vergangenen Februar noch als Diskussion unter Kollegen in der Kaffeeküche begonnen habe, trägt inzwischen den Projektnamen „Epidemiologischen Modellierung, Simulation und Entscheidungsunterstützung von Covid-19“ (EpideMSE).

Begonnen habe alles aus Neugier: „Wir haben dann unsere Expertise aus unterschiedlichen Forschungsfeldern systematisiert zusammengebracht. Dass wir uns am Ende mit unseren Prognosen ein Kopf-an-Kopfrennen mit langjährigen Profis wie denen der London School of Hygiene and Tropical Medicine liefern, hat unsere Erwartungen übertroffen“, sagt Mohring.

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Eine gute Erfahrung nennt er, dass man im März der Leitung einer Verbandsgemeinde nahe Kaiserslautern die Dringlichkeit von Massentests vortrug und daraufhin in kürzester Zeit Testzentren mit über 70 freiwilligen Helferinnen und Helfern entstanden

Auch international machen sich Forschungseinrichtungen seit Monaten mit ihren Berechnungen zu möglichen Pandemieverläufen heftig Konkurrenz. Regierungen reagieren oft mit drastischen Maßnahmen auf die vermeintlich neue Lage.

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Zu den einflussreichsten Modellierern zählen der Harvard-Epidemiologe Marc Lipsitch, die Universität Oxford und ein interdisziplinäres Team des Imperial College in London (ICL), dessen drastische Prognosen zu möglichen Todeszahlen den britischen Premier Boris Johnson zu einer Kursänderung veranlasst haben sollen.

Einen Überblick über das weltweite Infektionsgeschehen liefert seit Beginn der Pandemie ein Team der US-Eliteuniversität Johns Hopkins um die Professorin Lauren Gardner.

Szenarien sind keine Vorhersage

In Deutschland taten sich zuletzt unter anderen diverse Max-Planck-Institute, die TU Berlin, die RWTH Aachen und die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung der Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) mit teils drastischen Hochrechnungen hervor. Auch das Robert Koch-Institut (RKI) ging noch Mitte März von der Möglichkeit aus, dass die bundesweite Inzidenz zu Ostern bei 350 liegen könnte. Im schlimmsten Fall seien auch Inzidenzwerte von über 500 möglich.

Ein Problem mit den teilweise spektakulär klingenden Aussagen liegt in ihrer Wahrnehmung als Vorhersage: Die Mathematiker produzieren aber Szenarien, die zumeist aus Best- und Worst-Case-Betrachtungen bestehen.

Ihre Annahmen basieren auf den zum Zeitpunkt verfügbaren Informationen und ihre Modelle sind immer so gut, wie die Variablen, die ihren Berechnungen zu Grunde liegen: „Prognosen, die das Ziel haben, Fallzahlen oder Krankenhausbelegungen möglichst genau vorherzusagen, sind nur für einen extrem kurzfristigen Zeitraum von ein bis zwei Wochen sinnvoll möglich“, erklärt André Karch, Stellvertretender Institutsdirektor und Leiter der Klinischen Epidemiologie an der Universität Münster.

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Beim Kongress für Infektionskrankheiten und Tropenmedizin zog Karch vergangene Woche Bilanz. Langfristige Modellierungen hätten nicht das Ziel, bestimmte Parameter wie Inzidenzen oder Todesfälle genau vorherzusagen, sagt Karch. „Das können sie auch gar nicht.“

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Zu sehr würden die in der weiteren Zukunft liegenden Ereignisse durch die Geschehnisse der näheren Zukunft beeinflusst. „Unsere langfristigen Szenario-Modellierungen sind qualitativ zu verstehen und beanspruchen nicht, den realen Verlauf exakt vorherzusagen“, schränkt auch Jan Fuhrmann vom Simulation Lab Epidemiology and Pandemic des Jülich Supercomputing Centre (JSC) in einer Veröffentlichung ein.

Kritik ernteten die Modellierer auch, weil sie den massiven Rückgang der Fallzahlen ab Ende April nicht kommen sahen. Dieser Kritik müsse man sich stellen, sagt Mohring: „Prognosen schreiben die Verhältnisse der Vergangenheit fort. Aber Menschen und Politik reagieren auf Bedrohungen.“ Zu den Faktoren, die Entwicklungen beeinflussen können, zählen nicht zuletzt auch die Modellierungsergebnisse selbst und die Art und Weise, in welcher sie politisch eingesetzt werden.

Effekte von Maßnahmen schwer zu evaluieren

Problematisch gestalte sich der Versuch, die Effekte einzelner Eindämmungsmaßnahmen zu quantifizieren, sagt Karch: „Wegen des stark dynamischen Geschehens halte ich es für sehr schwierig bis unmöglich, im Einzelfall den Effekt einer definierten Maßnahme zu evaluieren“. Dagegen könne zum Beispiel die Wirkung eines Impfprogramms auf Bevölkerungsebene üblicherweise gut über Szenarien abgebildet werden.

Bei vielen klassischen Modellen werden die Modellparameter im Wesentlichen konstant gehalten, nachdem sie aus den Daten bestimmt wurden. Das sei für die Analyse von Covid-19 ein schwerer Nachteil, betonen die Modellierer. Ein weiteres Manko vieler klassischer Prognose-Modelle besteht darin, dass über alle Regionen und Altersgruppen hinweg eine homogene Dynamik der Epidemie angenommen wird.

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„Wir haben unser Modell schon im letzten Frühsommer um Kohortenbetrachtungen erweitert“, sagt der Fraunhofer-Experte Mohring. In einer Kohorte sind zum Beispiel alle entdeckten Infizierten einer Altersgruppe. Damit jede Kohorte gut über mittlere Parameter beschrieben werden kann, müssen diese aber eine gewisse Größe haben.

Die Einrichtungen, welche die erforderlichen Daten erheben, wüssten oft nicht, was die Konstrukteure von Modellen brauchen, bemängelt Mohring außerdem. „So wäre es sicher hilfreich gewesen, neben der Alters- und Geschlechterverteilung auch etwas über Berufsgruppen oder Wohnverhältnisse zu erfahren“.

Sabine Rößing

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