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Historische Darstellung einer Frau, die inmitten von Sammlungsgegenständen an einem Schreibtisch sitzt.

© Artis Bibliothek, Amsterdam (Abbildung aus: Maria Sibylla Merian: Metamorphosis insectorum Surinamensium, Darmstadt 2017)

300. Todestag von Maria Sibylla Merian: Der Raupen wundersame Verwandlung

Vor 300 Jahren starb Maria Sibylla Merian – eine Ausnahmeforscherin, die schon 1699 alleine nach Südamerika reiste. Noch heute verblüffen ihr Eigensinn und ihre Leidenschaft.

Wie soll man den Geschmack einer Ananas beschreiben? Zumal wenn die exotische Frucht auf dem eigenen Kontinent weitgehend unbekannt ist? Die Forschungsreisende Maria Sibylla Merian versucht es Anfang des 18. Jahrhunderts mit einem Vergleich: „Der Geschmack dieser Frucht ist, als ob man Trauben, Aprikosen, Johannisbeeren, Äpfel und Birnen miteinander vermengt hätte.“ Der Geruch sei lieblich und stark: „Wenn man sie aufschneidet, so riecht das ganze Zimmer danach.“

Auch Kakerlaken bevölkern mit Vorliebe die duftende Pflanze. Sie legen sogar ihre Eier darauf ab. „Wenn die Eier reif und die Jungen voll ausgebildet sind, beißen sie sich durch ihr Eiernest. Die jungen Kakerlaken laufen mit großer Schnelligkeit dort heraus, und da sie so klein wie Ameisen sind, verstehen sie es, in Kisten und Kasten durch Fugen und Schlüssellöcher zu gelangen, wo sie dann alles verderben.“

Lehrling bei ihrem Stiefvater, einem Blumenbild-Maler

So schreibt nur jemand, der diese Situation selbst erlebt, mit eigenen Sinnen erfasst hat. Maria Sibylla Merian kann, als sie um 1703 ihren Text über Ananas und Küchenschaben schreibt, auf jahrzehntelange Beobachtungen zurückgreifen. Sie ist zu diesem Zeitpunkt Ende 50, gesundheitlich angeschlagen, aber wild entschlossen, ihr Lebenswerk zu vollenden. Das gelingt ihr bravourös. 1705 erscheint „Metamorphosis insectorum Surinamensium“, eine ausführliche Beschreibung der Insekten Surinams. In dem südamerikanischen Land mit seiner üppigen Flora und Fauna hatte Merian zwei Jahre lang gelebt und geforscht. Die europäischen Zeitgenossen wissen ihre naturwissenschaftlichen Anstrengungen zu würdigen, an Ruhm und Anerkennung mangelt es jedenfalls nicht. Kurz vor ihrem 70. Geburtstag, am 13. Januar 1717, stirbt Merian in Amsterdam.

Wer war diese Frau, nach der heute noch etliche Schulen benannt sind? Und welche Rolle nimmt sie, über die beeindruckenden biografischen Anekdoten hinaus, in der Wissenschaftsgeschichte ein? Geboren wird Maria Sibylla Merian 1647 als Tochter des berühmten Kupferstechers Matthäus Merian dem Älteren in Frankfurt am Main. Ihre Familie entstammt dem gehobenen Handwerksmilieu. Der Vater stirbt, als sie drei ist. Die Mutter heiratet schnell neu. Stiefvater Jacob Marrel hat sich als Maler auf Blumenbilder spezialisiert. Bald nimmt er die begabte Stieftochter als Lehrling in seiner Werkstatt auf. Merian lernt, wie man Pigmente mahlt, Leinwände und Pergament vorbereitet.

Ausgefallenes Hobby: Schon früh sammelt Merian am liebsten Raupen

Schon als Teenager ist sie von Insekten fasziniert. Das junge Mädchen sammelt am liebsten Raupen, füttert sie und beobachtet ihre Entwicklung zum Falter. Damit die Larven überleben, muss sie aufwendige Aufzuchtanlagen entwickeln. Das ausgefallene Hobby wird zu ihrem Lebensinhalt, wie sie im Vorwort von „Metamorphosis insectorum Surinamensium“ schreibt: „Ich entzog mich aller menschlichen Gesellschaft und beschäftigte mich mit diesen Untersuchungen.“

Ihr Umfeld – Mutter, Stiefvater, Halb- und Stiefgeschwister – hat mit dem heimischen Labor offenbar kein Problem. „Niemand scheint versucht zu haben, sie von ihrer Leidenschaft abzubringen“, schreibt die Historikerin Natalie Zemon Davis in „Metamorphosen. Das Leben der Maria Sibylla Merian“. Anlässlich des 300. Todestags hat der Wagenbach Verlag die 1995 erschienene Biografie gerade neu aufgelegt. Für Davis ist Merian eine „Pionierin“, die sich über Bildungs- und Geschlechtergrenzen hinweggesetzt hat.

Nach der Hochzeit setzt sie ihre Studien fort, arbeitet als Zeichenlehrerin

Die Historikerin Barbara Beuys setzt in ihrer aktuellen Biografie „Maria Sibylla Merian. Künstlerin, Forscherin, Geschäftsfrau“ (Insel Verlag, 2016) einen anderen erzählerischen Akzent. Das familiäre Wohlwollen und die professionelle Ausbildung seien kein Zufall gewesen. Anders als im 19. Jahrhundert, als „Bürgertöchter keinen Beruf erlernen durften“, sei in früheren Epochen Gleichberechtigung „bei Handwerkern wie bei Kaufleuten“ normal gewesen. Merian, von der nur wenige autobiografische Zeugnisse existieren, hört auch nach ihrer Hochzeit 1665 nicht mit ihren Studien auf. Als sie mit ihrem Mann nach Nürnberg zieht, verdient sie dort als Zeichenlehrerin ihr Geld. Parallel arbeitet sie an der Herausgabe eines Blumenbuchs. Auch das nichts Ungewöhnliches, Muster- oder Lehrbücher mit Zeichenvorlagen sind in Mode.

In Surinam erkrankt Merian an Malaria. Ihr großes Werk kann sie trotzdem vollenden

Schmetterlinge, Raupen und Verpuppungen sind an einer Brennnesselpflanze zu sehen.
Metamorphose. Merians Lebenszyklus des Tagpfauenauges - mit Brennnessel.

© NEV-Bibliothek, Naturalis Diversity Center, Leiden (Abbildung aus: Maria Sibylla Merian: Metamorphosis insectorum Surinamensium, Darmstadt 2017)

Erst mit der Herausgabe ihres zweiteiligen Raupenbuchs („Der Raupen wunderbare Verwandlung und sonderbare Blumennahrung“, 1679 und 1683) erobert sie sich einen Platz in der wissenschaftlichen Welt. Fünf Jahre Vorarbeit stecken in der Publikation, mit der Merian zugleich ihren künstlerischen Stil und ihre wissenschaftliche Methode erfindet. Neu an ihrem Ansatz: Sie malt die Raupe mitsamt ihrer Wirtspflanze – und zeigt außerdem den gesamten Lebenszyklus eines Insekts in einem Bild. Dazu kommen ein bis zwei beschreibende Textseiten. So hat es bisher niemand gemacht.

Jahrelang spart sie für die teure Reise nach Surinam

Mit ihrem ungewöhnlichen Raupenbuch wird die junge Frau zur Vorreiterin einer ganzheitlichen Sichtweise. „Merians bleibender Beitrag im Porträtieren der Interaktionen von Organismen, welche das Studium der Ökologie ausmachen“, schreibt Kay Etheridge, Professorin für Biologie am US-amerikanischen Gettysburg College. „Ihr Text und ihre lebendigen Tafeln beeinflussten nachfolgende Naturforscherinnen und Naturforscher, und ihre Kompositionen, die Organismen innerhalb eines Habitats kombinieren, werden bis heute nachgeahmt.“ Etheridges Artikel ist im Rahmen einer limitierten Faksimile-Ausgabe von „Metamorphosis insectorum Surinamensium“ erschienen. Im Jubiläumsjahr wird Merian von vielen wiederentdeckt.

Ihr weiterer Werdegang im späten 17. Jahrhundert ist gut erforscht. Nach der Trennung vom Ehemann und einer zeitweisen Übersiedlung in eine christliche Kommune landet Merian mit ihren zwei Töchtern schließlich in Amsterdam. Längst sind ihr auch Schmetterlinge aus dem fernen Amerika in die Hände gekommen. Jahrelang spart sie für die teure Reise nach Surinam, die sie ohne offiziellen Forschungsauftrag antritt. 1699 sticht sie mit der jüngeren Tochter in See.

Im Gepäck: Aufzeichnungen - und Insekten in allen Entwicklungsstadien

Pergament, Farben, Stifte, alles müssen sie mitnehmen. Die Frauen lassen sich in der Hauptstadt Paramaribo nieder. Das tropische Klima ist schier unerträglich, die Arbeitsbedingungen hart. Sklaven helfen bei der Beschaffung von Pflanzen und Insekten. Auch das Wissen der Einheimischen, etwa über die Heilkräfte bestimmter Pflanzen, interessiert Merian. Alles, was ihr zugetragen wird, hält sie in ihren Notizen fest.

1701 muss sie vorzeitig nach Europa zurückkehren, sie ist an Malaria erkrankt. Im Gepäck hat sie nicht nur ihre Aufzeichnungen, sondern auch haufenweise Insekten in allen Entwicklungsstadien. Zurück in Amsterdam schafft Merian es trotz ihres desolaten Gesundheitszustands zusammen mit den Töchtern, 60 prächtige Pergamentbilder, auf denen 100 Insektenarten und 53 Pflanzenarten zu sehen sind, fertigzustellen. Anschließend muss alles in Kupfer gestochen werden.

Längst ist ihr Name zur Marke geworden und Merian eine gefragte Expertin. Im Vorwort ihres Surinam-Buchs gibt sie sich dennoch bescheiden: „Bei der Herstellung dieses Werkes bin ich nicht gewinnsüchtig gewesen.“ Trotzdem sei natürlich alles vom Feinsten: „Ich habe die Platten von den berühmtesten Meistern stechen lassen und das beste Papier dazu genommen, damit ich sowohl den Kennern der Kunst als auch den Liebhabern der Insekten Vergnügen und Freude bereite.“ Beides ist ihr gelungen, bis heute.

Maria Sibylla Merian: Metamorphosis insectorum Surinamensium. Die Verwandlung der surinamischen Insekten 1705. Hrsg. von Marieke van Delft und Hans Mulder, Lambert Schneider Verlag – WBG, Darmstadt, 2017. 200 Seiten mit 51 farbigen Abbildungen und 60 Tafeln, 149 Euro. Es gibt auch eine Ausstellung zum 300. Todestag: Das Museum Wiesbaden präsentiert vom 13. Januar bis zum 9. Juli seine Merian-Sammlung mit originalen Insektenpräparaten.

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