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Die Gleichberechtigung mit anderen Konfessionen wurde eigentlich erst 2013 erreicht, mit der Eröffnung der School of Jewish Theology an der Universität Potsdam, sagt Walter Homolka, Rektor des Abraham Geiger Kollegs, das 1999 als erstes liberales Rabbinerseminar auf kontinentaleuropäischem Boden nach der Schoa gegründet wurde.

© Ralf Hirschberger/dpa

150 Jahre Hochschule für die Wissenschaft des Judentums: Glauben mit Wissen vermitteln

Vor 150 Jahren wurde die Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums eröffnet. Liberale jüdische Ideen gelangten von hier aus in die Welt.

„Gott hat nicht nach dem Geschlecht gefragt“, erklärte selbstbewusst die erste Rabbinerin der Welt in den 1930er-Jahren. Regina Jonas, geboren in Berlin, wurde in Auschwitz ermordet. Wie viele progressive Juden ihrer Zeit studierte sie an der Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, die als Zentrum jüdischer Gelehrsamkeit von 1872 an bis weit in die NS-Zeit Bestand hatte.

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Nun feierte der Zentralrat der Juden in Deutschland mit seiner Allgemeinen Rabbinerkonferenz (ARK) die Eröffnung der Hochschule vor 150 Jahren. Den Begründern der Wissenschaft des Judentums, wie Leopold Zunz und Abraham Geiger, ging es vor allem auch um Emanzipation, um die Frage, wie man gleichberechtigt deutsch werden könne, ohne sein Judentum aufzugeben. 

Wissenschaft in einer antisemitischen Umgebung

An den preußischen Hochschulen und Akademien hatten Juden indes keinen leichten Stand. So schaffte man mit der privat finanzierten Hochschule ein jüdisches Refugium der Wissenschaftlichkeit in einer antisemitischen Umgebung. Hier konnte man hebräische Philologie und jüdische Studien betreiben – und sich für das Rabbinat ausbilden lassen.

„Die Gleichberechtigung mit anderen Konfessionen wurde eigentlich erst 2013 erreicht, mit der Eröffnung der School of Jewish Theology an der Universität Potsdam,“ sagt Walter Homolka im Gespräch mit dem Tagesspiegel. Der deutsche Rabbiner ist Rektor des Abraham Geiger Kollegs, das 1999 als erstes liberales Rabbinerseminar auf kontinentaleuropäischem Boden nach der Schoa gegründet wurde – und den zerrissenen historischen Faden der Hochschule der Wissenschaft des Judentums aufnahm.

Diese startete 1872 als staatlich genehmigte Hochschule, durfte sich ab 1883 jedoch nur noch als Lehranstalt bezeichnen. In den 1920er-Jahren firmierte sie abermals als Hochschule, ein Titel der ihr 1933 dann endgültig aberkannt wurde. Als geistige Bastion des liberalen Judentums fehlte ihr seinerzeit der Universitätsstand, nicht aber die Universitätsfähigkeit. Hier lehrten progressive jüdische Großdenker, etwa Leo Baeck und Max Wiener, Herman Cohen und Martin Buber.

Der Text sollte nicht mehr die Menschen beherrschen, sondern die Menschen den Text, meint Rabbiner Walter Homolka (M.) stellvertretender Direktor des Instituts für Jüdische Theologie, hier mit Oliver Günther (l.), Präsident der Universität Potsdam und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD; r.) bei der  Eröffnung des "Europäischen Zentrums für Jüdische Gelehrsamkeit" an der Universität Potsdam. 
Der Text sollte nicht mehr die Menschen beherrschen, sondern die Menschen den Text, meint Rabbiner Walter Homolka (M.) stellvertretender Direktor des Instituts für Jüdische Theologie, hier mit Oliver Günther (l.), Präsident der Universität Potsdam und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD; r.) bei der  Eröffnung des "Europäischen Zentrums für Jüdische Gelehrsamkeit" an der Universität Potsdam. 

© Soeren Stache/dpa-Zentralbild/dpa

„Bis 1942 gab es mitten im Zentrum des Naziwahnsinns ein Zentrum jüdischer Weisheit“, bekundete der Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Abraham Lehrer, im Rahmen der 150-Jahres-Feier. Das Leo-Baeck-Haus in der Tucholskystraße 9 ist heute Amtssitz des Zentralrats der Juden und beherbergte seinerzeit die Hochschule. Das steinerne Haupt des „Löwen von Juda“ prangt noch über dem Eingangstor.

„Den Gründern ging es darum, eine Brücke zu schlagen, zwischen Tradition und Moderne,“ sagt Rabbiner Walter Homolka. Man wollte die alten jüdischen Quellen mit wissenschaftlichen Methoden erschließen und gleichzeitig vermitteln, wie sich das Judentum über Jahrhunderte weiterentwickelt und den zeitlichen Umständen angepasst hatte. 

Der Ansatz war auch eine Kampfansage an die christliche und die hegelianische Erzählung, das Judentum sei in der Geschichte erstarrt und im Christentum „aufgehoben“ worden. „Es ging immer auch um jüdische Selbstvergewisserung in einer sich wandelnden Zeit“, sagt Homolka.

Auch das Judentum die Aufklärung durchschritten

Und darum, den Glauben mit dem Wissen zu vermitteln. So hatte auch das Judentum die Aufklärung durchschritten. Mittels historisch-hermeneutischer Methoden wollten die Reformer die jüdischen Schriften gleichsam gegen den Strich lesen. „Das liberale Judentum hat mit der talmudischen Exegese gebrochen“, sagt der Berliner Historiker Hartmut Bomhoff, der den Festakt zum Jubiläum zusammen mit der Moses Mendelssohn Stiftung initiiert hat. Man prüfte etwa, welche Passagen des Tanach in der Gegenwart noch Geltung haben konnten. Abraham Geigers Anspruch war es, die Judenheit aus dem Judentum heraus „frisch und neu“ zu gestalten.

„Der Text sollte nicht mehr die Menschen beherrschen, sondern die Menschen den Text“, sagt Homolka. Dabei habe die Modernisierung der Gesellschaft auch das Arbeitsfeld des Rabbinats erweitert, erklärt Bomhoff. Die Entwicklung einer jüdischen Sozialarbeit etwa nimmt im deutschen liberalen Judentum ihren Anfang. Genau wie die jüdische Wissenschaft strahlte sie von diesem her aus in die Welt. Heute zählt die World Union of Progressive Judaism rund 1,8 Millionen Mitglieder.

Der bundesweit erste Universitätsstudiengang für Jüdische Theologie an einer öffentlichen Hochschule wurde im Jahr 2013 an der School of Jewish Theology an der Universität Potsdam eröffnet.
Der bundesweit erste Universitätsstudiengang für Jüdische Theologie an einer öffentlichen Hochschule wurde im Jahr 2013 an der School of Jewish Theology an der Universität Potsdam eröffnet.

© Ralf Hirschberger/dpa +

Jene Lehrenden und Schüler der Hochschule nämlich, die den Deportationen rechtzeitig entkamen, emigrierten nicht selten nach England und Amerika, von wo aus die Ideen des liberalen Judentums später nach Deutschland zurückkehrten. Eine dieser bereits 1837 vom liberalen Rabbiner Abraham Geiger geforderten Ideen war es, Frauen in religionspraktischen Dingen als gleichberechtigt zuzulassen. 

Die in Auschwitz ermordete Berlinerin Regina Jonas hat hier Pionierarbeit geleistet. Aktuell sind über den Globus verteilt weit über 1000 Rabbinerinnen tätig. Im Jahr 2010 wurde die in der Ukraine geborene Alina Treiger durch das Potsdamer Abraham-Geiger-Kolleg zur ersten deutschen Rabbinerin seit Regina Jonas ordiniert. 

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