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Gerichtsverhandlung in einem historischen Gerichtssaal.

© Archiv des Informations- und Dokumentationszentrums Armenien (IDZA, Berlin)

100. Jahrestag des Mordes an Mehmet Talat: Rache für die Armenier und ihre Folgen

Am 15. März 1921 erschoss Soghomon Tehlirian den Drahtzieher des Völkermords an den Armeniern in Berlin. Die Tat hatte völkerrechtliche Folgen.

Am späteren Vormittag des 15. März 1921 schlendert ein unauffällig elegant gekleideter Herr die belebte Charlottenburger Hardenbergstraße in Richtung Zoologischer Garten entlang. Er bemerkt nicht, wie ein jüngerer Landsmann die Straße überquert und ihn überholt. Der Jüngere ist angeblich Student der Mechanik, Soghomon Tehlirian, geboren und aufgewachsen in der osmanischen Provinz Erzurum.

Nachdem er sich von der Identität seines Opfers überzeugt hat, streckt er den 47-jährigen Mehmet Talat mit einem gezielten Genickschuss nieder. Bei seiner Festnahme äußert er: „Ich Armenier, der Türke! Für Deutschland kein Schade!“

Nach einer für heutige Maßstäbe unglaublich kurzen Frist von zweieinhalb Monaten beginnt im Moabiter Kriminalgericht der Strafprozess gegen den armenischen Attentäter. Ihm droht die Todesstrafe für vorsätzlichen Mord an dem einstigen Innenminister (1913-1917) und Regierungschef (1917-1918) des Osmanischen Reiches.

Doch schon nach anderthalb Tagen, am 3. Juni 1921, gelangt das zwölfköpfige Geschworenengericht zu seinem überraschenden Freispruch wegen Schuldunfähigkeit. Die preußischen Justizbehörden schieben Tehlirian umgehend ab, sodass Talats Witwe keine Revision einlegen konnte.

[Die Autorin ist Soziologin und war von 1983 bis 2015 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Osteuropa-Institut der FU Berlin.]

Der Prozessausgang wurde international und in der deutschen sozialdemokratischen sowie liberalen Presse als Triumph höherer Gerechtigkeit gefeiert. Denn Mehmet Talat war einer der Hauptverantwortlichen für die Vernichtung der osmanischen Armenier in den Jahren 1915 bis 1917.

Mehmet Talat hatte mit Vergeltung gerechnet

Kurz vor seinem Tod verfasste er im Berliner Exil seine 1921 in der Türkei veröffentlichten Erinnerungen. In dieser Apologie unterstellt Talat den anderthalb Millionen armenischen Opfern, ihre Vernichtung durch „Undankbarkeit“, Rebellion und Verrat am osmanischen Staat selbst verschuldet zu haben.

Wie alle Völkermörder vor und nach ihm gab er sich überzeugt, präventiv, im Interesse der eigenen Gruppe vernichten zu müssen. Mit einer armenischen Vergeltungstat rechnete er fest, lehnte aber das Angebot des deutschen Auswärtigen Amtes ab, sich auf einem entlegenen Mecklenburger Gutshof zu verstecken.

Porträtbild von Soghomin Tehlirian.
Soghomon Tehlirian war Mitglied im armenischen Untergrund.

© mauritius images/CPA Media Pte Ltd/Alamy

Auf Befehl Adolf Hitlers wurden Talats sterbliche Überreste im März 1943 auf dem türkischen Friedhof an der Neuköllner Eehitlik („Märtyrer“)-Moschee exhumiert und in einem Ehrengrab auf dem Istanbuler Freiheitshügel beigesetzt. Hitler hoffte vergeblich, dass die Türkei durch diese Geste erneut zu einem deutschen Kriegsverbündeten würde.

In seiner Heimat sowie in Teilen der türkischen Diaspora wird Talat bis heute als patriotischer Märtyrer verehrt. Drei Moscheen in Ankara und Istanbul tragen seinen Namen, ebenso wie sieben Stadtteile, drei Boulevards und 21 Straßen in verschiedenen Großstädten.

Tehlirian handelte im Auftrag der Regierungspartei

Im Verfahren gegen Tehlirian kam nicht zur Sprache, dass der Angeklagte seine Tat als Angehöriger der armenischen Untergrundorganisation Wresh („Nemesis“, „Vergeltung“) beging. Im Herbst 1919 hatte ein Parteitag der sozialrevolutionären, damals in Armenien allein regierenden Partei Daschnakzutjun („Föderation“) die „Sondermission“ (Hatuk Gorts) beschlossen: Die Hauptverantwortlichen für den Völkermord an den Armeniern sollten ausfindig gemacht und getötet werden.

[Lesen Sie auch Tessa Hofmanns Bericht über den Forschungsstand zum Völkermord an den Armenier:innen: Die Vernichtungsabsicht kann belegt werden]

Das Versagen der Entente, entgegen früherer Zusagen das osmanische Kriegskabinett für Kriegsverbrechen sowie Verbrechen gegen die Menschheit juristisch zur Verantwortung zu ziehen, spielte für diesen Entschluss ebenso eine Rolle wie das Versagen der osmanischen Militärgerichtshöfe. Tehlirian war den Organisatoren der Wresh aufgefallen, nachdem er im März 1920 Harutjun Mkrttschjan erschossen hatte.

Dieser hatte 1915 für den Istanbuler Polizeipräsidenten eine Namensliste prominenter armenischer Bürger der Stadt zusammengestellt, die ab dem 24. April 1915 festgenommen, ins Landesinnere deportiert und dort fast ausnahmslos ermordet wurden: ein veritabler Elitizid, der die Vernichtung der nun buchstäblich „kopflosen“ armenischen Nation einleitete.

Auf der Flucht vor der Rache des türkischen Staats

Tehlirian präsentierte sich vor dem Moabiter Gericht als Augenzeuge der Vernichtung seiner deportierten Angehörigen. Tatsächlich befand er sich 1915 in Serbien. Nach seiner Ausweisung aus Deutschland kehrte Tehlirian 1921 dorthin zurück. Bis 1950 lebte er mit seiner Frau in Belgrad. Doch der einstige Rächer musste nun selbst die Rache des türkischen Staates fürchten.

Das Ehepaar zog 1956 in die USA, nachdem die Daschnakzutjun gewarnt hatte, dass türkische Agenten Tehlirian auf den Fersen seien. In San Francisco arbeitete er als Postangestellter unter dem Decknamen Saro Melikian. Sein jüngerer Sohn charakterisierte ihn wie folgt: „Er war der sanfteste, freundlichste Mann, fast naiv. Ich und mein älterer Bruder mussten ihn zwingen, uns zu erzählen, was passiert war. Er sprach nie gern darüber. Er war ein Mann mit sehr wenigen Worten. Er schrieb aber Gedichte und zeichnete sehr gut.“

Porträtbild von Mehmet Talat.
Mehmet Talat wurde am 15. März 1921 von Soghomon Tehlirian in der Hardenbergstraße in Charlottenburg erschossen.

© picture alliance/CPA Media Co. Ltd

Erst der französische Enthüllungsjournalist Jacques Derogy (d.i. Jacques Weitzman, 1925-1997) deckte 1986 Tehlirians Verbindung zu Wresch auf (Les vengeurs arméniens – Opération Némésis). Etwa zeitgleich wurde beim Studium der Voruntersuchungsakten und anderer Dokumente in Archiven der damaligen DDR deutlich, wie stark die preußischen Justizbehörden und das deutsche Auswärtige Amt versucht hatten, in die Prozessführung einzugreifen.

Paralleles Verfahren gegen deutsche Kriegsverbrecher

Vor allem wollten sie eine Einlassung auf die politischen Hintergründe der Tat Tehlirians vermeiden. Denn in Leipzig waren am 23. Mai 1921 Verfahren gegen deutsche Kriegsverbrecher angelaufen. Die deutsche Politik befürchtete offensichtlich, dass Parallelen zwischen den osmanischen und den deutschen Verbrechen gezogen werden könnten, weswegen das Berliner Verfahren so unpolitisch und unauffällig wie möglich ablaufen sollte.

Aus derartigen Erwägungen wurde der Berliner Prozess regelrecht „durchgepeitscht“ und lag sein Schwerpunkt nicht auf der Frage, welche Rolle Talat bei der Vernichtung der osmanischen Armenier gespielt hatte, sondern auf Gutachterstellungnahmen zur seelischen Verfassung Tehlirians während der Tat. Auf den Ausschluss der Öffentlichkeit wurde allerdings mit Rücksicht auf das starke internationale Medieninteresse verzichtet.

[Zur bis aktuellen Debatte um die Leugnung des Völkermords: Eklat um Preisträgerin nach Armenien-Aussagen]

Raphael Lemkin und die Ahndung von Staats- und Großverbrechen

Gerade wegen seiner Schwächen hinterließ der Berliner Strafprozess bei dem im heutigen Belarus geborenen polnisch-jüdischen Juristen Raphael Lemkin (1990-1959) einen tiefen Eindruck. Im Dilemma zwischen Straflosigkeit und Lynchjustiz erkannte Lemkin jene Gesetzeslücke, die eine Ahndung gruppenbezogener Staats- und Großverbrechen verhinderte.

Zu seinem Lebenswerk wurden der Entwurf und die Umsetzung eines internationalen Abkommens zur Verhinderung und Bestrafung von Völkermord. Am 25. Mai 1926 erschoss der jüdische Schneider, Dichter und Anarchist Shalom Schwarzbart (1886-1938) in Paris den ukrainischen Militärkommandanten (Chefataman) Symon Petljura.

Petljura war als Vorstandsvorsitzender der Ukrainischen Nationalrepublik für das Massaker an den Juden 1918 verantwortlich, bei dem auch Schwarzbarts Eltern umkamen. Schwarzbart wurde 1927 nach einem Strafprozess für unzurechnungsfähig erklärt, ebenso wie Tehlirian sechs Jahre vor ihm.

Lemkin fühlte sich durch die Urteile in Berlin und Paris bestätigt: „,Der Täter ist unzurechnungsfähig und muss folglich frei ausgehen’. Allmählich reifte in mir der Entschluss, dass ich handeln musste.“

Lemkins erster Versuch, ein entsprechendes Abkommen in den Völkerbund einzubringen, scheiterte 1933, nicht zuletzt am Widerstand der Delegation aus Nazideutschland.

Erst nach einem weiteren Weltkrieg und Völkermord in noch größerem Ausmaß verabschiedeten die Vereinten Nationen 1948 ihr Abkommen zur Verhütung und Bestrafung des Völkermords, das in seinen wesentlichen Teilen von Lemkin vorbereitet wurde. Die darin enthaltene Definition von Völkermord beruht nach Lemkins Darstellung empirisch auf der Vernichtung der osmanischen Christen sowie dem Genozid an den europäischen Juden.

Tessa Hofmann

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