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Frank-Walter Steinmeier klatscht Schüler ab, die ihm die Hände entgegenstrecken.

© Andreas Arnold/dpa

Update

100 Jahre Grundschule: Steinmeier hat „Riesenrespekt“ vor Arbeit von Lehrkräften

Appell zum 100. Geburtstag der Grundschule: In der Frankfurter Paulskirche fordert der Bundespräsident mehr Einsatz für Chancengleichheit in der Bildung.

Eine „demokratische Revolution in der Schulpolitik“ hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die Geburtsstunde der „für alle gemeinsamen Grundschule“ vor 100 Jahren genannt. „Zum ersten Mal in der deutschen Geschichte sollten alle Kinder gemeinsam zur Schule gehen, unabhängig von ihrer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Stellung oder dem Religionsbekenntnis der Eltern“, sagte Steinmeier am Freitag beim Festakt in der Frankfurter Paulskirche.

Es war die Weimarer Nationalversammlung, die 1919 erstmals eine allgemeine Schulpflicht für ganz Deutschland verankerte. Ab 1920 wurde der vierjährige Schulbesuch mit dem Reichsgrundschulgesetz zur Pflicht. Ansätze dazu gab es etwa 1763 in Preußen, als Friedrich II. das Generallandschulreglement erließ. Weil sich jedoch bei Weitem nicht alle Eltern das Schulgeld leisten konnten, die Kinder arbeiten mussten und es vielerorts gar keine Schulen gab, besuchte um 1800 erst die Hälfte der Kinder eine Schule. Bis 1846 stieg die Quote auf 80 Prozent. Um 1900 dann gab es überall öffentliche Volksschulen.

"Kulturkampf um die Grundschule"

Steinmeier erinnerte an den „Kulturkampf um die Grundschule“ zu Beginn der Weimarer Republik: „Das Zentrum wollte die Konfessionsschulen erhalten; Konservative liefen Sturm gegen das, was man die Einheitsschule nannte.“ Steinmeiers Erzählung der ersten Jahre der Grundschule erinnert nicht von ungefähr an heutige „Schulkämpfe“. Als in den ersten vier Klassen „plötzlich Kinder aus den verschiedensten Elternhäusern“ zusammenkamen, sei das, „was wir heute gern Heterogenität nennen, für die Lehrer auch damals eine Herausforderung“ gewesen.

Den heutigen Lehrerinnen und Lehrern versicherte Steinmeier seinen „Riesenrespekt vor Ihrer Arbeit“. Wenn sie in ihren Klassen „mit Kulturkonflikten konfrontiert“ seien, dürften sie nicht alleingelassen werden. „Wir müssen sie unterstützen, wir dürfen sie auch nicht überhäufen mit immer neuen Ansprüchen und Erwartungen“, sagte Steinmeier.

Gleichzeitig richtete der Bundespräsident aber einen starken Appell an die Bildungspolitik und an die Schulen, „mehr Chancengerechtigkeit zu verwirklichen“. Auch hundert Jahre nach der Gründung der Grundschule hänge der Bildungserfolg in Deutschland noch immer „stark von der sozialen Herkunft ab, mehr als in vielen anderen industrialisierten Staaten“. Um diese Ungleichheiten abzubauen, müssten gerade die Grundschulen gestärkt werden. Chancengerechtigkeit könne nur erreicht werden, „wenn wir schon früh ausgleichen, was in manchen Elternhäusern nicht vermittelt wird“.

Grundschulverband will "eine Schule für alle"

Für Maresi Lassek, die Vorsitzende des Grundschulverbands, liegt die Lösung im Modell des „gemeinsamen Lernens in einer Schule für alle“, wie sie bei ihrer Festrede in der Paulskirche sagte. Darauf hätten „alle Kinder, ungeachtet ihrer sozialen, ethnischen, sprachlichen oder kulturellen Herkunft“ ein Recht. Trotzdem würden sie weiterhin beim Übergang in weiterführende Schulen in „ungleichwertige“ Bildungsgänge aufgeteilt. Damit wirkten „die Mechanismen sozialer Benachteiligung“ auch noch nach hundert Jahren.

„Dieses Versagen der deutschen Bildungspolitik kann nicht eindringlich genug angeprangert werden“, sagte Lassek. Die Grundschule dürfe nicht mehr nach vier Jahren – in Berlin und Brandenburg sind es sechs Jahre – enden. Es sei an der Zeit „den gemeinsamen Unterricht über die vier Jahre hinaus zu planen, wie es in der ehemaligen DDR bereits mehrere Jahrzehnte üblich war“ und auch in den Gesamtschulen westlicher Bundesländer erfolgreich praktiziert werde.

Nach dem Festakt mit Steinmeier begann an der Universität Frankfurt am Main der zweitägige Kongress zum Thema „100 Jahre Grundschule – 50 Jahre Grundschulverband“ mit rund 1000 Pädagoginnen und Pädagogen. Beim Kongress geht es unter dem Motto „Kinder lernen Zukunft“ um Themen wie die Individualisierung des Unterrichts, Grundschule ohne Noten, Inklusion, digitale Medien – und um den Rechtschreibunterricht.

Im Folgenden ein von der dpa zusammengestellter Überblick über die Geschichte und Gegenwart der Grundschule in Deutschland.

Die Anfänge

Bevor es die Grundschule gab, war die Lage so: Privilegierte Kinder hatten Hauslehrer oder wurden in speziellen Vorbereitungsschulen intensiv für das spätere Gymnasium geschult. Kinder aus armen Familien drängten sich dagegen in übervollen Volksschulklassen und schafften später nur selten den Sprung auf das Gymnasium.

In der Weimarer Republik „sollte die Grundschule als gemeinsame Schule für alle das ständische Schulsystem beenden“, schreibt der Deutsche Grundschulverband in einem Papier zum 100-Jährigen Jubiläum. „Die Demokratisierung der Gesellschaft sollte erreicht werden, indem schon in der Schule alle die gleiche Chance bekommen und dieselben Erfahrungen machen“, sagt Bildungsforscher Hans Brügelmann der Deutschen Presse-Agentur.

Grundschule in Zahlen heute

Jeder dritte Schüler in Deutschland besucht eine Grundschule. Das sind rund 2,8 Millionen Mädchen und Jungen - die Jungs sind zahlenmäßig leicht im Vorteil (+ 48.000). Laut Statistischem Bundesamt gibt es rund 15.500 Grundschulen im Land. Seit 2006 wurden mehr als 1500 Grundschulen geschlossen oder zusammengelegt, besonders in ländlichen, strukturschwachen Landkreisen mit Bevölkerungsrückgang. Männliche Lehrer sind immer noch selten: Von den 200.000 Grundschullehrkräften sind 90 Prozent Frauen.

Was sich inhaltlich seit 1919 verändert hat

Im Idealfall sieht es heute an einer Grundschule so aus, sagt Bildungsforscher Brügelmann: „Die Kinder sitzen nicht mehr in Reih und Glied in den Bänken, sondern arbeiten an unterschiedlichen Aufgaben.“ Die zentrale pädagogische Veränderung seit Beginn der Grundschule sei gewesen, dass verstärkt Rücksicht genommen werde auf die Unterschiede, die Kinder schon am Schulanfang mitbrächten: Bei der Sprachentwicklung, bei der Erfahrung mit Mathematik und Schriftsprache. „Sie müssen deshalb unterschiedliche nächste Schritte tun, obwohl sie in derselben Klasse sitzen.“ In der Umsetzung sei das an manchen Grundschulen bereits gelungen, an manchen nicht.

Das läuft gut

Eine Umfrage hatte Anfang September gezeigt: Die große Mehrheit der Eltern ist mit der Grundschule ihrer Kinder zufrieden und würde diese weiterempfehlen. Stephan Wassmuth, der Vorsitzende des Bundeselternrats, sagte, vieles sei nicht nur durch in internationale Schülerleistungsstudie Pisa in Bewegung gekommen. „Teilweise ist das kompetenzorientierte Lernen auf einem guten Weg, und die Eltern erhalten heute mehr konkrete Rückmeldungen zu ihrem eigenen Kind, was sich nicht zuletzt auf die Vertrauensbildung gut auswirkt.“ Bei den Schülerleistungen stehe die deutsche Grundschule international gut da, sagt Bildungsforscher Brügelmann: „Nicht spitze, aber überdurchschnittlich.“

Das größte Problem

Der Lehrermangel: Bis 2025 werden nach Prognosen der Bertelsmann-Stiftung mindestens 26.300 Lehrkräfte an Grundschulen fehlen. Der Elternratsvorsitzende kritisiert die Politik: „Wieso die Kultusministerien, trotz der gemeinsamen Strategie zur Lehrerausbildung, diese Baustelle nicht in den Griff bekommen, ist für uns Eltern nicht erklärbar“, sagt Wassmuth. Zudem werde kulturelle Bildung „vernachlässigt beziehungsweise zurückgefahren“.

Ein Blick nach vorne

Prognosen sind schwierig, vor allem wenn sie die Zukunft betreffen, lautet ein geflügeltes Wort. Wird an Grundschulen auch in 100 Jahren das Wesentliche - also Lesen, Rechnen und Schreiben - gelehrt? Bildungsforscher Brügelmann verweist zwar darauf, dass sich Dinge manchmal sehr schnell verändern: „Vor zehn Jahren hätte man nicht vorhergesagt, dass es eine so starke Präsenz von digitalen Medien im Alltag gibt.“ Dennoch sagt er auch: „Was ganz klar ist, eine Grundbildung in Schriftsprache, Mathematik, im musisch-ästhetischen Bereich, aber auch im Weltverständnis, was wir also Sachunterricht nennen - das wird bleiben, egal, mit welchen Medien man da operiert.“ (mit dpa/Jörg Ratzsch)

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