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Präsident Erdogan vertritt die esoterische Meinung, dass höhere Leitzinsen die Inflation erhöhen, weshalb er seiner Notenbank lange Zeit untersagt hat, mit Zinserhöhungen die inzwischen galoppierende Inflation zu stoppen.

© Can Merey/dpa

Vor den Neuwahlen: Verfall der Lira bedroht die türkische Wirtschaft

Die türkische Zentralbank hat die Zinsen erhöht, gegen den Willen von Präsident Erdogan. Kurz vor den Wahlen droht dem Land eine Wirtschaftskrise.

Einen Monat vor den vorgezogenen Neuwahlen in der Türkei beschwört der Kursverfall der Lira die Gefahr einer Wirtschaftskrise herauf. Angesichts einer dramatischen Talfahrt der Landeswährung zog die Zentralbank am Mittwoch zwar die Notbremse und beschloss gegen den Widerstand von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan eine kräftige Zinserhöhung, um die steigende Inflation zu bekämpfen. Doch die Wirkung der Notmaßnahme verpuffte am Donnerstag bereits wieder, die Lira verlor erneut an Wert. Die Lage könnte sich deshalb vor den Wahlen am 24. Juni noch weiter verschärfen.

Die Lira war in den vergangenen Tagen zeitweise auf einen Kurs von 4,92 Lira für einen US-Dollar abgerutscht. Nach der bei einer Dringlichkeitssitzung der Währungshüter in Ankara beschlossenen Leitzinserhöhung von 13,5 auf 16,5 Prozent erholte sich die Lira zunächst bis auf 4,58, sackte bis zum Donnerstagnachmittag aber wieder auf 4,75 ab – der Wert entspricht einem Verlust von mehr als 20 Prozent seit Jahresbeginn. Das sind äußerst schlechte Nachrichten für die Türkei. Das Land ist zur Energieversorgung auf Öl- und Gaseinfuhren angewiesen, die in Dollar berechnet werden, und muss auch seine Kredite immer teurer bezahlen.

Besonders die Verschuldung der türkischen Unternehmen sei ein ernstes Problem, sagen Experten. Laut Medienberichten belaufen sich die Verbindlichkeiten auf mehr als 220 Milliarden Dollar. Für viele Unternehmen wird die Kreditaufnahme immer teurer, hinzu kommt ein Abfluss von Kapital und Talenten. Potenzielle Investoren meiden die Türkei. Andere Anleger ziehen sich wegen steigender Zinserträge in den USA aus Schwellenländern zurück. Auch die immer schlechteren Noten der internationalen Rating-Agenturen für die Türkei zeigen Wirkung.

Das starke Wirtschaftswachstum wurde von der Regierung erkauft

Dabei steht das Land auf den ersten Blick sehr gut da: Ein Wirtschaftswachstum von 7,4 Prozent im vergangenen Jahr wird von der Regierung als Beweis für den Erfolg ihrer Politik präsentiert. Doch das Wachstum wurde mit staatlichen Anreizen erkauft und konnte die Arbeitslosigkeit nicht senken. Stattdessen steigen Inflation und Leistungsbilanzdefizit. Erdogan hat die Schwierigkeiten mit mehreren kontroversen Äußerungen noch weiter verschlimmert. Bei einem Treffen mit Anlegern in London kündigte er an, er werde die Finanzpolitik seines Landes nach einem Wahlsieg im Juni stärker selbst in die Hand nehmen – trotz der nominellen Unabhängigkeit der Zentralbank. Seine Zuhörer waren geschockt. Der Präsident hat die Zentralbank mehrmals vor einer eigentlich längst überfälligen Zinserhöhung gewarnt. Die eingeschüchterten Währungshüter sahen deshalb der Entwicklung lange tatenlos zu, bis sie am Mittwoch handelten – zu spät, um die Märkte wirklich zu beruhigen, wie einige Beobachter meinen.

Erdogan setzt auf niedrige Zinsen und Geldgeschenke an Unternehmen und Bürger, um einen Kollaps der Wirtschaft vor dem Wahltag zu verhindern. Erst kürzlich stellte er den türkischen Rentnern eine Sonderzahlung in Aussicht. In der verzweifelten Lage verspricht Ankara zudem allen Türken, die ihr Vermögen aus dem Ausland in die Heimat zurückbringen, volle Straffreiheit – Kritiker sprechen von einer Einladung zur Legalisierung von widerrechtlich erworbenem Vermögen wie Gewinnen aus Korruption oder Drogenhandel. Bisher musste sich Erdogan nicht allzu viel Sorgen machen, dass ihm die wirtschaftlichen Probleme den Wahlkampf verhageln könnten. In einer kürzlich gemachten Umfrage zeigten sich 42 Prozent der Wähler überzeugt, dass der Kursverfall der Lira von finsteren Kräften im Ausland gesteuert werde: Die Erdogan-Regierung wird also von vielen Verbrauchern derzeit nicht für die Talfahrt verantwortlich gemacht. Doch das könnte sich ändern. Geschäftsinhaber in Istanbul klagen, sie könnten hochwertige Importgüter und die häufig in Dollar erhobenen Ladenmieten nicht mehr bezahlen.

Inzwischen mehren sich Berichte, nach denen die schlechte wirtschaftliche Entwicklung auf die Stimmung in Erdogans Partei AKP drückt. In den vergangenen Jahren konnte die AKP stets auf steigenden Wohlstand verweisen – diesmal muss die Partei erläutern, warum es nicht so gut läuft. Ihre Anhänger sprechen deshalb von einem angeblichen Angriff ausländischer Kräfte auf die Türkei, um den Kursverfall bei der Lira zu erklären.

Die Krise hat tiefere Ursachen

Auch Erdogan selbst lässt Nervosität erkennen. So schimpfte er öffentlich über den für die Wirtschaftspolitik zuständigen Vizepremier Mehmet Simsek, der bei vielen Anlegern als Garant der Stabilität gilt. Simsek soll nach der Schelte durch den Präsidenten seinen Rücktritt angeboten haben, was von Erdogan aber abgelehnt wurde. Nach der Zinserhöhung vom Mittwoch stellte sich Simsek hinter die Zentralbank und erklärte per Twitter, es sei höchste Zeit, die Glaubwürdigkeit der Finanzpolitik wieder herzustellen. Ob Erdogan derselben Meinung ist, bleibt unklar. Der Präsident erklärte, die Lira-Turbulenzen hätten nichts mit der wirtschaftlichen Realität der Türkei zu tun.

Fachleute in der Türkei betonen, die Probleme seien längst nicht mehr mit Zinserhöhungen allein zu bekämpfen. Die tieferen Ursachen der Krise lägen im schlechten Zustand des Rechtstaates, sagte der Wirtschaftsexperte Ugur Gürses der Nachrichtenplattform T24. Erdogans Tendenz, alle Entscheidungsbefugnisse an sich zu ziehen und dabei die Unabhängigkeit von Institutionen wie der Zentralbank in Frage zu stellen, haben die Anleger tief verunsichert.

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