zum Hauptinhalt
Immer verbunden. Autos sind künftig ständig online und sollen mit dem Fahrer und ihrer Umwelt kommunizieren können. Foto: Julian Stratenschulte/dpa

© dpa

Vernetzte Fahrzeuge: Autobauer fürchten den Kampf um Patente

Vernetzte Fahrzeuge sind auf Technologien der Telekommunikationskonzerne angewiesen. Der Streit um deren Patente lähmt die Autobauer. Die Unterstützung des Gesetzgebers ist offenbar dringend nötig, wie ein neues Gutachten fordert.

Das „Smartphone auf Rädern“ beschreibt die größte Vision der Automobilindustrie: Alle Autos sind künftig digital vernetzt, elektrisch und in der Bedienung smart und komfortabel. Doch die Vision ist zugleich die größte Gefahr für die Branche. Denn bei der Transformation vom Blechbieger zum Anbieter fahrender Software braucht die Industrie Hilfe - von mächtigen Technologieanbietern mit eigenen Interessen. Und das macht sie verletzlich. 

Die Knappheit bei Halbleitern zeigt aktuell, wie empfindlich die automobile Wertschöpfungskette gestört wird, wenn ein zentrales elektronisches Bauteil plötzlich fehlt. Läuft es schlecht, stehen die Bänder still. Jedoch kann nicht nur fehlende Hardware die Produktion lahm legen. Auch der Streit um geistiges Eigentum aus dem Digital- und Telekommunikationssektor ist zu einem zentralen Störfaktor für die Autoindustrie geworden.

Vernetzte Fahrzeuge, die ständig mit dem Internet verbunden sind, die ihre Passagiere unterhalten und mit der Umwelt kommunizieren sollen, brauchen Informations- und Kommunikationstechnologie. Erfindungen anderer also, die durch Patente geschützt sind, für die die Autobauer und ihre Zulieferer Lizenzgebühren bezahlen müssen.

Ein Auto besteht aus mehr als 10.000 Einzelteilen und aus einem Vielfachen von implementierten Erfindungen, bei denen auch kleinste Bauteile oder Funktionen patentiert sind. Zum Beispiel bei Parkassistenten, Emergency Assist oder der Navigation. Viele Patente stammen von den Autobauern selbst – neun der zehn größten Patentanmelder beim Deutschen Patent- und Markenamt stammen aus der Branche.

Versäumnisse der Autobauer, Poker der Patentinhaber

Gleichwohl kommt ein Großteil von Technologiefirmen. Und hier bricht zwischen Auto- und Telekommunikationsanbietern häufig Streit über die Nutzung oder Verletzung von Patenten aus – gerade bei sogenannten standardessenziellen Patenten (SEP) aus dem Mobilfunk. Das sind Patente, die bei der Anwendung eines bestimmten Standards (etwa 3G, 4G oder 5G) zwangsläufig zur Anwendung kommen. Prominente Auseinandersetzungen sind die Rechtsstreitigkeiten zwischen Daimler und Nokia oder zwischen Volkswagen und Broadcom.

„Diese Auseinandersetzungen werden zunehmen“, sagt Stefan Bratzel, Leiter des Center of Automotive Management (CAM). „Das Thema Vernetzung und alles, was damit zusammenhängt, bekommt eine gewichtigere Rolle im Fahrzeugbau.“ Bratzel hat im Auftrag von Audi, BMW, Daimler und VW ein Gutachten erstellt, das sich mit den Auswirkungen von Telekommunikations-Patenten auf die Innovationsfähigkeit der Automobilindustrie beschäftigt. Die Studie wurde am Montag vorgestellt und lag Tagesspiegel Background vorab vor. 

Ihre Ergebnisse dürften auch im laufenden Verfahren zur Modernisierung des deutschen Patentrechts Gehör finden. Am Mittwoch beschäftigt sich der Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages mit der Reform. „Die unklare Rechtslage ist ein gravierender Standortnachteil“, hatte der Autoverband VDA Anfang des Monats gewarnt. Bratzel, der auch Defizite bei den Autobauern sieht, die das Thema zu spät ernst genommen hätten, kommt zu drei zentralen Ergebnissen. 

  • Erstens: Die im deutschen Patengesetz verankerte Möglichkeit für Patentinhaber, die Nutzung ihrer Patente vor Gericht sehr leicht verbieten zu lassen (automatischer Unterlassungsanspruch, Paragraf 139), müsse eingeschränkt werden. Etwa, indem die Verhältnismäßigkeit einer Unterlassungsverfügung zunächst geprüft werde. Beispiel: Der Patentinhaber untersagt die Nutzung eines Patents für ein kleines Bauteil, das die Funktion eines ganzen komplexen Systems lahmlegt. Hier berge das geltende Recht, so Bratzel, ein „enormes wirtschaftliches Risiko für die Automobilindustrie“. Das Justizministerium hatte im Herbst 2020 die Einführung einer Verhältnismäßigkeitsprüfung vorgeschlagen. 
  • Zweitens: Landen die Rechtsstreitigkeiten erst einmal vor Gericht, ist es meist schon zu spät. Die Produktion stockt oder steht still. Um dies zu verhindern, stimmen die Autobauer häufig Vergleichen zu. Die werden meist sehr teuer, weil die Patentinhaber wissen, was für die Autohersteller auf dem Spiel steht, und entsprechenden Druck ausüben können. So wird die Höhe der Vergleichszahlung im Rechtsstreit zwischen Broadcom und VW/Audi auf bis zu 876 Millionen Euro geschätzt. „Bereits die Androhung einer gerichtlich verfügten Unterlassung stellt ein unverhältnismäßig starkes Druckmittel gegen Automobilhersteller dar“, schreibt Bratzel, der von Erpressbarkeit spricht. Hier müssten die Gerichte die vorhandenen Spielräume des Gesetzes nutzen, um unzumutbare wirtschaftliche Folgen zu vermeiden.
  • Drittens: Bratzel warnt vor der Strategie der Patentinhaber, direkt mit den Autoherstellern ins Geschäft zu kommen und die klassischen Zulieferer zu umgehen. Dies sei für die Tier1-Lieferanten, die ganze Systeme für die Autobauer fertigen und auf die Patente der IKT-Anbieter angewiesen sind, „geschäftskritisch und komplexitätserhöhend“. Hier sieht Bratzel für alle Beteiligten Gefahren: die OEMs stünden unter dem direkten Druck der Patentinhaber (auch, weil die Autobauer die technischen Details einzelner Teilkomponenten nicht kennen) und die Zulieferer, die für mehrere OEMs arbeiten, drohten mangels Patentzugang „aus dem internationalen Innovationswettbewerb“ auszuscheiden.

„Wir benötigen dringend beim patentrechtlichen Unterlassungsanspruch eine Verhältnismäßigkeitsprüfung, die in der gerichtlichen Praxis auch wirklich wirksam ist und die derzeitigen Missstände behebt“, sagte Uwe Wiesner, der bei Volkswagen den Bereich Corporate Intellectual Property leitet, Tagesspiegel Background. VW melde selbst viele Patente an – 2020 mehr als 1500 – und brauche zu deren Schutz ein belastbares Patentrecht. „Gleichzeitig beobachten wir gerade in Deutschland mit Sorge die missbräuchliche Anwendung des Unterlassungsanspruchs.“ Wiesner warnt davor, dass Deutschland „ein bevorzugter Klagestandort für Patentverwerter zum Schaden der heimischen Industrie“ werden könnte.  

Der Streit zwischen Nokia und Daimler ist inzwischen vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) gelandet. Daimler weigert sich, Lizenzgebühren zu zahlen, weil diese üblicherweise von den Zulieferern beglichen würden. Nokia betrachtet das Auto als Ganzes und verlangt Geld von Daimler. Der finnische Konzern, der viele standardessenzielle Mobilfunk-Patente hält, hat vergangene Woche eine Beschwerde gegen ein Urteil des Landgerichts Düsseldorf zurückgezogen, das den Streit den Richtern in Luxemburg vorgelegt hatte. 

Im Gegenzug klagt der Zulieferer Continental gegen Nokia in den USA. Das Ziel: Der Telekomkonzern soll seine Mobilfunkpatente auf Basis von fairen, angemessenen und nicht-diskriminierenden Bedingungen (FRAND) an Conti lizenzieren. Also zu den in der Branche üblichen Bedingungen. Aber in der Autoindustrie ist vieles schon lange nicht mehr üblich.

„Die Autoindustrie bleibt noch lange auf Kooperationen mit der Techbranche angewiesen“, glaubt Stefan Bratzel, auch wenn die Hersteller bemüht seien, immer mehr Vernetzungstechnik und Software selbst zu entwickeln. „Das wird aber nur sehr langsam gelingen.“

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false