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Der scheidende Verdi-Chef Frank Bsirske.

© dpa

„Unglaubliches Scheitern“: In einem Punkt ist Bsirskes Bilanz bei Verdi verheerend

Der langjährige Verdi-Chef Frank Bsirske tritt beim Bundeskongress der Gewerkschaft ab. Er blickt auf schwierige Jahre zurück.

Angela Merkel wird diesmal nicht kommen. Vor vier Jahren hatte der Bundeskongress der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi die Bundeskanzlerin für ihre Flüchtlingspolitik gefeiert, und Frank Bsirske auf offener Bühne der CDU-Politikerin seine Zuneigung erklärt. Merkel kommt Mitte Oktober, wenn Bsirske in Berlin in den Ruhestand verabschiedet wird.

Die 1000 Delegierten des Kongresses werden ihren Vorsitzenden am Montag feiern, wenn Bsirske, der mehr als 18 Jahre die Gewerkschaft führte, zum letzten Mal einen Rechenschaftsbericht vorlegt. Am Dienstag wird der 52-jährige Frank Werneke, seit 2002 Bsirskes Stellvertreter, zum neuen Vorsitzenden der Dienstleistungsgewerkschaft mit 1,9 Millionen Mitgliedern gewählt.

Nur noch 1,9 Millionen. Als die aus fünf Gewerkschaften gebildete Verdi 2001 an den Start ging, waren es 2,8 Millionen. In den Mitgliederlisten der Gründungsorganisationen standen viele Karteileichen, die schon lange keine Beiträge mehr gezahlt hatten und nach und nach ausgebucht wurden; Bsirske beziffert diese Gruppe mit rund 300.000. Dann machte Verdi Privatisierung und Outsourcing im öffentlichen Dienst zu schaffen, die Zunahme prekärer Beschäftigung, etwa im Handel, und damit korrespondierend die Abnahme der Tarifbindung.

So sank der Anteil der tarifgebundenen Arbeitnehmer im westdeutschen Handel seit dem Jahr 2000 von 70 auf unter 40 Prozent. Die Krisen in der Druckindustrie und im Finanzgewerbe kosteten auch Mitglieder, und in den Wachstumsbereichen Gesundheit und Pflege erhöht die Gewerkschaft nur langsam den Organisationsgrad. „Durch Mitgliederverluste, eine rückläufige Tarifbindung, Spartengewerkschaften und drohende Besitzstandsverluste ist Verdi unter Druck geraten“, befand das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) bereits 2017.

Verdi ist in der Selbstfindung

IW-Autor Hagen Lesch lobt die Reform des öffentlichen Tarifwesens Mitte der 2000er Jahre und die tarifpolitische Wende in den vergangenen zehn Jahren: „Seit 2008 ist Verdi zumindest für den öffentlichen Dienst in die Offensive gekommen und es ging mit den Einkommen aufwärts. “In vielen anderen Dienstleistungsbereichen jedoch sei die Gewerkschaft noch immer in der Defensive und dazu weiter stark mit sich selbst beschäftig. „Verdi ist im Umbruch und in der Selbstfindung“, meint Lesch. „Der Laden ist nicht stabil.“

Bsirske wird bisweilen vorgeworfen, zu spät an strukturellen Veränderungen der komplexen Organisation mit 13 berufsspezifischen Fachbereichen gearbeitet zu haben. Jetzt läuft der Prozess, und in den nächsten Jahren werden aus 13 vier Fachbereiche fusioniert. Das erinnert an die Zeit vor der Verdi-Gründung, als es fünf Gewerkschaften gab: Eine für den öffentlichen Dienst, eine für die Post, eine weitere für Druck und Medien, die Angestelltengewerkschaft DAG sowie die Gewerkschaft für Handel, Banken und Versicherungen (HBV).

Großer Mitgliederschwund

Mit Mitteln des Organizing, die in der IG Metall seit gut zehn Jahren ausprobiert werden, bemüht sich nun auch Verdi um neue Mitglieder. Von einen „unglaublichen Scheitern“, spricht der Sozialwissenschaftler und langjährige IG-Metall-Mitarbeiter Wolfgang Schröder mit Blick auf Bsirskes Mitgliederbilanz. Der Vorsitzende sei ein „Integrationsolymp“ und habe die überaus schwierige Fusion herausragend gemeistert und „den Laden atemberaubend gut zusammengehalten“. Doch selbst in den wachsenden humanorientierten Dienstleistungsbranchen habe Verdi „keinen Schlüssel gefunden“, um mehr Beschäftigte zu organisieren.

Zumal in Pflege und Erziehung mit einem hohen Anteil prekär beschäftigter Frauen in Teilzeit müsste die Gewerkschaften einen andern Zugang und eine andere Sprache finden als für die Arbeitnehmer in exportorientierten Industriebereichen. „Was kann man speziell für die Beschäftigten in diesen Branchen tun?“ Um diese Frage beantworten zu können, sei Innovationsfreude erforderlich, meint Schröder. Vielleicht mit dem Schwung des neuen Vorsitzenden, der am Mittwoch in seiner ersten Grundsatzrede seine Schwerpunkte nennen wird. Gewerkschaften seien grundsätzlich „sehr auf die Spitze orientiert“, sagt Schröder. Entsprechend viel hängt ab von der Spitzenfigur.

„Sehr, sehr einvernehmlich“, so sagt Bsirske, habe sich die Organisation auf Frank Werneke als neuen Vorsitzenden verständigt. Eigentlich hätte es eine Frau sein sollen, zumal die Mehrheit der Mitglieder weiblich ist. Doch angeblich ließ sich eine Funktionärin für die Spitze nicht finden, sodass nun Werneke zwei Frauen als Stellvertreterinnen bekommt. Werneke selbst - „ich hatte in den letzten Jahren eine stark nach innen gerichtete Aufgabe“ - wird nun auch auf der bundespolitischen Bühne Figur machen müssen. Und dabei eine eigene Sprache finden, mit der er den großen Kommunikator Bsirske vergessen macht.

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