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Anfang September ist Manfred Kranz seit 50 Jahren Meister. Ein paar Tage später wird er 74.

© Raphael Krämer/ Tsp

Traditionelles Handwerk: Wo alte Möbel auferstehen

Manfred Kranz ist einer der wenigen verbliebenen Polsterer in Berlin – und hat mehr Sesselgerippe, als er in seinem Leben aufarbeiten kann.

Von Maris Hubschmid

Wenn junge Paare heute in seinen Laden kommen und von Antiquitäten sprechen, stellt sich häufig heraus: Die meinen gar keinen Barocksessel, die suchen geradlinige Stücke aus den 60er und 70er Jahren – Möbel, die gebaut wurden, als er selbst schon seinen Meister gemacht hatte. Doch das ahnen die Kunden meist nicht, wenn sie vor ihm stehen, dem kräftigen Mann mit der gesunden Gesichtsfarbe, den nach hinten gekämmten Haaren, den auffällig großen, starken Händen.

Manfred Kranz ist Polsterer – so jedenfalls nannte man den Beruf damals, als er in die Lehre ging. Die Handwerkskammer Berlin nimmt diese Spezifizierung nicht mehr vor. Sie führt ihn nebst 834 anderen vage als „Raumausstatter“. Er hat durchaus schon Kinowände mit Teppich verkleidet, Bodenbeläge oder Sonnenschutzvorrichtungen aber sucht man bei ihm vergebens. Stattdessen: Gerippe überall. Manfred Kranz kann sie alle wieder lebendig machen, in mühevoller Handarbeit lässt er sie mithilfe von Spiralfedern und Schellack wieder auferstehen. Typveränderung inklusive.

Am 5. September ist er seit 50 Jahren Meister, ein paar Tage später wird er 74. Den Großteil dieses Lebens ist kaum ein Tag vergangen, an dem er nicht Hanffäden geschnürt, Jutegurte gespannt, Rosshaar gezupft hätte. Er hat sämtliche Moden unter den Fingern gehabt, Ornamente, großkarierte Bezugsstoffe, Streifen längs und quer. Und hat doch fortwährend in seiner kleinen Friedrichshainer Werkstatt bewiesen: Ein gutes Möbel ist zeitlos.

Nur noch wenige üben dieses traditionelle Handwerk aus, das vergleichsweise zeitaufwendig und arbeitsintensiv ist. Ein 150 Jahre altes Sofa verlangt die gleichen Arbeitsschritte wie bei seiner Originalpolsterung – 50 bis 70 Arbeitsstunden braucht Kranz für einen Zweisitzer.

Möbelschätze aus der DDR

Strapazierfähigkeit und Sitzkomfort sind Worte, mit denen Kranz aufgewachsen ist. In Beckum in der Nähe von Dortmund ist er geboren. Sein Vater war Schreiner, mit dem Traum: „Du polsterst die Stühle, die ich baue.“ Aber die Leute deckten sich lieber in den neuen billigen Möbelhäusern ein, die Zechen und Stahlfirmen machten dicht, „es gab keine Kohle mehr.“ Eines Tages besuchte Manfred Kranz seine Schwester, die als Lehrerin nach Berlin gegangen war. Gemeinsam schlenderten sie über den Antikmarkt in der Straße des 17. Juni. Im August, wie jetzt. „Mir gingen die Augen über!“, erinnert er sich. Teppiche, Uhren, Nähmaschinen, Bilder: „Diese Fülle. Da wurde noch Qualität verkauft!“ Am nächsten Wochenende kam er wieder, diesmal mit einem Transporter, darin Ware für 12 000 D-Mark. Fuhr um Mitternacht in Dortmund los, erreichte Berlin um sieben in der Früh. War am Nachmittag ausverkauft.

„Natürlich habe ich das wiederholt.“ 1200 Kilometer, jedes Wochenende. Montags bis freitags saß er in seiner Werkstatt im Ruhrpott, polsterte, was ihm unter die Finger kam, keine Kundschaft weit und breit. Wochenends riss man ihm in Berlin die Stücke aus der Hand. Einmal sprach ihn einer an – ob er sein Biedermeiersofa mit Wasserbüffelleder beziehen könne? Eine Herausforderung. „Man muss für jedes Material ein Gefühl entwickeln“, erklärt Kranz. „Vielleicht wie beim Bildhauen.“ Dann wollten das plötzlich alle, die verstaubten blumigen Familienerbstücke mit glattem, kühlen Leder konterkarieren. Es wurde sein Markenzeichen.

1995 zog Manfred Kranz Konsequenzen – und um. In die Schreinerstraße, wie passend! Während er in seinem Hinterzimmer erneuerte, verkleidete, hämmerte, wurde draußen erneuert, verkleidet, gehämmert. „Das war ein Klopfen auf der Straße. Jedes Jahr wurde ein anderes Haus saniert.“ Die wiedervereinte Stadt erwies sich in doppelter Hinsicht als Glücksgriff. Nicht nur feierte man seine individuellen Arbeiten. „Ich stieß auf wahre Schätze in der ehemaligen DDR.“ Wo man kein Wirtschaftswunder erlebt hatte, keinen Konsumrausch, noch immer auf dem Biedermeier saß, als der Westen längst auf Pressspan lümmelte.

Nachhaltigkeit ist wieder gefragt

Mancher Berlin-Besucher blätterte dem Polsterer Scheine zwischen die Stoffrollen und zahlte die gleiche Summe nochmal für den Transport nach Mailand, Washington oder Neuseeland. Wenn Manfred Kranz das Ziel gefiel, unterbot er die Angebote der Spediteure. Fuhr nach Klagenfurt oder an den Gardasee. „Inzwischen haben die Araber den Markt im Osten abgegrast“, sagt er. Sorgen macht er sich nicht. „Ich habe mehr Möbel im Lager, als ich in diesem Leben aufarbeiten kann.“

Auch auf Märkte geht er heute nicht mehr. „Die Klientel und das Angebot haben sich verändert.“ Früher kam es vor, dass er, wenn er am Samstagabend kaum noch Ware hatte, am Sonntag sein eigenes Sofa verkaufte. Jetzt schrecken die Preise viele ab. „Dabei behält ein anständig restauriertes, altes Möbel seinen Wert über Jahrzehnte. Und kostet doch nicht mehr als ein besseres Ikea-Sofa.“ Diejenigen aber, die echtes Handwerk zu würdigen wissen, oder Nachhaltigkeit – und das werden mehr –, finden ihn. Er beschäftigt zwei Mitarbeiter.

An Sommerpause war dieses Jahr wieder einmal nicht zu denken. „Menschen fahren weg und lassen mich in der Zwischenzeit ihre Stühle oder Sofas neu beziehen. Damit sie nach den Ferien direkt wieder drauf sitzen können.“ Ihm ist das nur recht, zu viel Freizeit war noch nie seins. Abends isst er gelegentlich ein großes Schnitzel im „Bauernlümmel“ in der nahegelegenen Einkaufspassage, sonntags fährt er manchmal in die Sauna nach Oranienburg. Aber danach zieht es ihn doch wieder in den Laden, der zahlreiche Mieterhöhungen später in die Bänschstraße gewandert ist. Flächen ausmessen, Stoffe zurechtschneiden, ein paar Ziernägel anbringen – „Sinnvolles tun“.

In seiner Wohnung im Seitenhaus steht mittlerweile ein ausladendes Gründerzeit-Sofa, er hat es sich mit Zebra-Imitat bezogen. Aber entspannt auf der Couch sitzen? „Das sollen die anderen machen.“

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