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Der große Zampano. Claus Weselsky war vor ein paar Tagen bei einer Protestkundgebung seiner Gewerkschaft in Berlin in seinem Element. Für die einen ist der GDL-Chef der letzte echte Arbeiterführer, für die anderen ein starrsinniger Streikhansel.

© Hilse/REUTERS

Tarifstreit bei der Bahn: Die Stunde der Diplomatie

Im Tarifstreit bei der Bahn wird an einem Kompromiss getüftelt. Es geht um Geld – vor allem aber um die Kooperation des Konzerns mit den Gewerkschaften.

Die Züge fahren wieder, Claus Weselsky läuft gut gelaunt durch die Gegend, und Wohlmeinende bemühen sich um eine Entschärfung des vertrackten Konflikts. Wenige Tage nach dem Ende des dritten Streiks wird viel versucht, um einen vierten zu verhindern. Womöglich bis Ende der Woche, so hieß es am Mittwoch, könnte mit Weselsky ein Gerüst gefunden werden, auf dem dann Verhandlungen sinnvoll seien. Dabei geht es vordergründig um Geld; im Kern des Konflikts steht die Frage, welche Rolle die kleine GDL künftig im Bahn-Konzern spielt neben der größeren Eisenbahnverkehrsgewerkschaft EVG. Und für wen die GDL Tarifverträge abschließt.

Die Bahn will 2021 eine Nullrunde

Am 1. September, wenige Stunde vor Beginn des dritten Streiks, hatte Bahn-Personalvorstand Martin Seiler der Lokführergewerkschaft ein neues Angebot vorgelegt. Wie von der GDL gefordert, will die Bahn nun in diesem Jahr eine Coronaprämie von 400 bis 600 Euro je nach Entgeltgruppe für jeden Beschäftigten zahlen. Auch bei der Laufzeit des neuen Tarifs kam Seiler seinem Tarifpartner Weselsky um vier Monate entgegen: Statt 40 Monate solle der neue Tarif nun 36 Monate gelten; die GDL beharrt bislang auf 28 Monaten. „Gleichzeitig bieten wir eine Lohnerhöhung von 3,2 Prozent – genau das fordert auch die GDL“, teilte Seiler mit. Das stimmt – jedenfalls ein bisschen.

Orientierung am EVG-Tarif

Die GDL fordert nach dem Vorbild des öffentlichen Dienstes (Bund und Kommunen) 1,4 Prozent in diesem Jahr und weitere 1,8 Prozent Anfang 2022. Seiler dagegen bietet 1,5 Prozent erst zum 1.1.2022 und weitere 1,7 Prozent zum 1. März 2023. Diese Termine haben einen Grund: Vor einem Jahr hatte sich die EVG auf einen Corona-Spartarif eingelassen, der für 2021 eine Nullrunde vorsieht und erst zum 1.1.2022 eine Erhöhung um 1,5 Prozent, wie sie nun Seiler der GDL vorschlägt. Der Tarifvertrag mit der EVG läuft im Februar 2023 aus, also unmittelbar vor den 1,7 Prozent, die Seiler den GDL-Mitgliedern zu zahlen bereit ist. Er könnte dann im nächsten Tarifvertrag der EVG ebenfalls 1,7 Prozent ab März 2023 zahlen.

In die eigene Falle gegangen

Wenn das so käme, wäre der Personalvorstand nicht in die Falle getappt, die er selbst gestellt hat. Der Tarifvertrag mit der EVG aus dem Herbst 2020 enthält eine Nachbesserungsklausel. Wenn mit der GDL ein aus Sicht der Arbeitnehmer besserer Tarifvertrag abgeschlossen wird, dann muss auch der Tarif der EVG erhöht werden. Auch das macht den aktuellen Konflikt so pikant und komplex. GDL und EVG sind sich spinnefeind. Die GDL mit derzeit gut 37 000 Mitgliedern versucht sich von der EVG mit knapp 184 000 als die „bessere“ Gewerkschaft abzugrenzen und zu profilieren. Augenscheinlich gelingt das: Die GDL hat in den vergangenen zwölf Monaten rund 3000 Mitglieder gewinnen können, bei der EVG geht der Trend nach unten.

Martin Seiler, Personalvorstand der Bahn, wird ohne Hilfe von Dritten keinen Kompromiss mit GDL-Chef Weselsky finden.
Martin Seiler, Personalvorstand der Bahn, wird ohne Hilfe von Dritten keinen Kompromiss mit GDL-Chef Weselsky finden.

© REUTERS

Womit wir beim Thema Organisationsmacht und Tarifeinheit wären. Der Bundestag hatte vor gut sechs Jahren das sogenannte Tarifeinheitsgesetz (TEG) beschlossen, um das Prinzip „Ein Betrieb, eine Gewerkschaft, ein Tarifvertrag“ zu stärken. Hintergrund waren die zunehmenden Arbeitskämpfe von Sparten- oder Berufsgewerkschaften, die aufgrund ihrer strategischen Stellung hohe Tarifabschlüsse mit relativ geringem Aufwand durchsetzen konnten: Ärzte, Fluglotsen, Piloten und nicht zuletzt die Lokführer. Das TEG privilegiert die größere Gewerkschaft: Wenn in einem Betrieb mehrere Gewerkschaften unterwegs sind und für identische Beschäftigtengruppen Tarifverträge abschließen, dann gilt nur der Tarifvertrag der Gewerkschaft mit den meisten Mitgliedern.

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Das Friedensabkommen ist ausgelaufen

Seit dem Inkrafttreten des Gesetzes funktionierte bei der Bahn ein Friedensabkommen mit der GDL und der EVG, das aber Ende 2020 auslief. Seit diesem Jahr will die Bahn das TEG anwenden und die kleine und lästige GDL „eliminieren“, wie Weselsky meint. Aber so einfach ist das nicht. Es ist schwer zu klären, welche Gewerkschaft in welchem Betrieb die meisten Mitglieder hat. Die Bahn hat bereits vor Monaten GDL und EVG aufgefordert, Mitgliederzahlen für die rund 300 Betriebe im Bahn-Konzern vorzulegen. Weselsky lehnte das ab, worauf die Bahn aufgrund von Indikatoren wie den letzten Betriebsratswahlen über den Daumen peilte. Danach hat die GDL nur in 16 von den gut 70 Betrieben des Konzerns, in denen sich die Gewerkschaften in die Quere kommen, mehr Mitglieder als die EVG.

Die GDL gewinnt Mitglieder

Die GDL weist das als Unsinn zurück und beansprucht mehr Betriebe. Weselsky kalkuliert dabei auch mit den Effekten des Arbeitskampfes. Woche für Woche bekommt er mehr Mitglieder, die der GDL im Idealfall in weiteren Betrieben die Mehrheit verschaffen. Wie die Mehrheitsverhältnisse am Ende wirklich aussehen, wird erst im Fall der Tarifkollision aufgedeckt, wenn also die GDL einen Tarif abgeschlossen hat, der mit einem Tarifvertrag der EVG kollidiert; das heißt, beide Verträge gelten für identische Beschäftigtengruppen. Erst wenn es soweit ist, der aktuelle Konflikt beendet und ein neuer Tarif unterschrieben ist, will Weselsky die GDL-Zahlen offenlegen.

Viele Rentner in der EVG

Die Zeit spielt für ihn und gegen die EVG. Auch ein anderer Umstand spricht womöglich gegen die viel größere EVG. Der Anteil der Rentner in der Eisenbahnverkehrsgewerkschaft wird auf mindestens ein Drittel geschätzt. Das relativiert den Größenvorteil, denn es werden bei Anwendung des Tarifeinheitsgesetzes nur die Betriebsangehörigen gezählt, also die aktiven Gewerkschaftsmitglieder.

Platzeck als Schlichter

Irgendwann in den nächsten Wochen wird Friede einkehren bei der Bahn. Bis zum nächsten Crash. Matthias Platzeck, der im vergangenen November vergeblich versucht hatte, zwischen GDL und Bahn zu schlichten, sieht einen „wirklich sozialpartnerschaftlichen Umgang zum Wohle der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie des Unternehmens sehr erschwert“. Dabei sei ein pfleglicher Umgang „insbesondere bei allen Themen der Tarifeinheit und Tarifpluralität angezeigt“, schreibt der frühere Ministerpräsident Brandenburgs in seiner Schlichtungsempfehlung, die von der GDL auch deshalb abgelehnt wurde, weil sie nur Tarifverträge für Lokführer, Lokrangierführer, Zugbegleiter und Bordgastronomen und Schienendisponenten betraf. Weselsky will aber Tarifverträge auch für seine Mitglieder in den Bahnhöfen oder in der Verwaltung. Also da, wo die GDL definitiv die kleinere Gewerkschaft ist.

Ohne einen Beziehungstherapeuten werde es keine Lösung zur Frage der Tarifeinheit geben, meint Platzeck. „Die Tarifvertragsparteien sollten sich mindestens einmal im Monat ganztags treffen, um unter Anleitung des Moderators (...) Lösungsoptionen zu entwickeln.“ Er selbst sei dazu bereit.

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