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In Bewegung. Menschen aus höheren sozialen Schichten achten mehr auf ihre Gesundheit.

© Foto: Paul Zinken/dpa

Exklusiv

Studie belegt Gesundheitsfatalismus: Weniger Deutsche glauben an die Kraft der Prävention

Die Zahl der Bürger, die sich durch eigenes Verhalten bessere Gesundheit erhoffen, ist deutlich gesunken. Experten beunruhigt das.

In Deutschland nimmt der Gesundheitsfatalismus zu. Nur noch 35 Prozent der Bürger sind davon überzeugt, durch eigenes Verhalten starken Einfluss auf die eigene Gesundheit nehmen zu können. Vor fünf Jahren waren es noch 46 Prozent. Und auch die soziale Kluft bei Prävention und Gesundheitswissen ist erheblich. So lebten Menschen mit hohem sozioökonomischem Status gesundheitsbewusster und achteten mehr auf Prävention als Menschen mit weniger Einkommen und Bildung, heißt in der Untersuchung der Stiftung Gesundheitswissen, die dem Tagesspiegel vorliegt und die an diesem Donnerstag veröffentlicht wird.

„Gesundheit hängt auch im Jahr 2020 noch immer von der sozialen Schicht ab“, fasst der Vorstandsvorsitzende der Stiftung, Ralf Suhr, die zentralen Ergebnisse zusammen. „Menschen mit niedrigerem sozioökonomischem Status schätzen die eigene Gesundheit, ihre gesundheitsbezogene Lebensqualität und ihre Möglichkeiten, die eigene Gesundheit zu beeinflussen, wesentlich schlechter ein.“  

Einkommenssituation, Bildung, Berufstätigkeit, soziales Umfeld: Dass der eigene Gesundheitszustand auch und zu einem nicht geringen Teil mit der Zugehörigkeit zu gesellschaftlichen Gruppen zusammenhängt, haben bereits mehrere Studien belegt – bis hin zum Nachweis, dass arme Menschen bis zu acht Jahre früher sterben als reiche.

In der aktuellen Untersuchung bewerten drei von vier Befragten mit höherem sozioökonomischem Status ihre Gesundheit als „gut“ bis „sehr gut“. Bei Befragten mit niedrigem Status ist es dagegen nur knapp die Hälfte. Kein Wunder: 54 Prozent der sozioökonomisch Schwächeren leiden an mindestens einer chronischen Erkrankung. Bei den sozioökonomisch Stärkeren sind es lediglich 33 Prozent.

Nur jeder Dritte glaubt, starken Einfluss auf seine Gesundheit zu haben

Wirklich überraschend ist aber ein anderer Befund. Trotz gestiegener Möglichkeiten, sich über Prävention zu informieren, geben sich hierzulande immer mehr Menschen fatalistisch, was die eigene Gesundheit betrifft. Bevölkerungsübergreifend meinen lediglich 35 Prozent der Befragten, „starken“ Einfluss auf die eigene Gesundheit nehmen zu können. Im Jahr 2015 waren es noch 46 Prozent. Die Studienautoren sind über diesen Rückgang beunruhigt. Schließlich sei „gerade das Wissen um die eigenen Einflussmöglichkeiten und das Zutrauen in diese ein Schlüssel zur Prävention – und damit eine Ressource für die eigene Gesundheit“, betont Suhr.

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Hinzu kommt, dass bei diesem entscheidenden Faktor ein enormes soziales Gefälle sichtbar wird: Von den Befragten mit hohem sozioökonomischem Status gibt sich jeder Zweite überzeugt davon, durch eigenes Verhalten die Gesundheit stark beeinflussen zu können. Bei Befragten mit niedrigem sozioökonomischem Status ist es gerade mal ein Viertel. Der Rest, also 75 Prozent, sind der Ansicht, dass ihr Lebensstil keine oder zumindest keine bedeutenden Effekte auf ihre Gesundheit habe.

Am höchsten ist die Quote derer, die an die eigenen Einflussmöglichkeiten glauben, bei den 50- und 64-Jährigen. In dieser Altersgruppe sind es immerhin 39 Prozent. Und der eigene Gesundheitszustand spielt dabei auch eine Rolle. So wissen besonders Menschen mit chronischen Erkrankungen von den Auswirkungen bestimmter Verhaltensweisen auf ihre Befindlichkeit. Bei der Befragung erklärten sieben von zehn Chronikern, auf diese Weise den Verlauf ihrer Erkrankung beeinflussen zu können.

Eigenes Fehlverhalten als größtes Risiko

Worin sehen die Deutschen das größte Risiko für ernsthafte Erkrankungen? Die meisten, nämlich etwa 50 Prozent, nennen hier die eigene Lebensweise und entsprechendes Fehlverhalten. „Gene“ folgen mit 37 Prozent auf Rang zwei. „Stress“ – bis zu einem gewissen Grad ebenfalls selbst beeinflussbar – landet mit 26 Prozent auf Platz drei, vor „Umwelteinflüssen“ mit 23 Prozent. Geschlechterunterschiede gibt es bei diesen Einschätzungen kaum. 25 Prozent trauen sich hier allerdings keine Bewertung zu.

Dafür wissen viele, vor welchen Erkrankungen eine gesunde Lebensweise vor allem schützen kann: Bluthochdruck/Hypertonie nennen 58 Prozent, Rückenschmerzen 54 Prozent, Zuckerkrankheit/Diabetes 52 Prozent und Burnout 45 Prozent. Am unteren Ende der Skala stehen Parkinson (1,3 Prozent), Epilepsie (1 Prozent) und Multiple Sklerose (0,6 Prozent). Die eindeutigen Ursachen bei allen drei zuletzt genannten Erkrankungen sind tatsächlich unklar.

Soziales Gefälle beim Wissen um Prävention

Eine Mehrheit der Deutschen kennt auch die naheliegendsten Präventionsmöglichkeiten. 82 Prozent der Deutschen sind der Meinung, dass Nicht-Rauchen der Gesundheit förderlich ist. 80 Prozent halten genügend Schlaf für eine wichtige Möglichkeit, um gesund zu bleiben. Die Devise „Viel Bewegung“ haben 79, das „Achten aufs Gewicht“ 78 Prozent angekreuzt. Als weniger relevant gelten Yoga und andere Entspannungstechniken (20 Prozent) sowie gelegentliches Fasten (17 Prozent).

Doch auch hier zeigen sich wieder die sozioökonomischen Unterschiede. Menschen aus sozial höheren Schichten messen der Gewichtskontrolle weit mehr Bedeutung zu als Befragte mit niedrigem sozialen Status (82 zu 68 Prozent). Gleiches gilt für gesunde Ernährung (77 zu 60 Prozent) oder regelmäßigen Sport, wo die Einschätzung beider Gruppen am stärksten auseinanderdriftet (82 zu 59 Prozent). Und selbst beim Wissen um die Bedeutung des Nichtrauchens lässt sich mit 88 zu 78 Prozent noch ein beachtlicher Unterschied feststellen.

Auffällig ist, dass Frauen der Prävention deutlich mehr Bedeutung beimessen als Männer – und zwar egal welcher. Das betrifft das Nichtrauchen (86 zu 78 Prozent) ebenso wie die Inanspruchnahme von Vorsorgeuntersuchungen (76 zu 63 Prozent), den Verzicht auf Alkohol (70 zu 59 Prozent) oder Entspannungstechniken (29 zu 11 Prozent).

Probleme beim Zugang zu hilfreicher Information

Das Interesse an Gesundheitsthemen ist unabhängig von der sozialen Schicht hoch. 65 Prozent aller Befragten sind nach eigenen Angaben daran „interessiert“ oder sogar „sehr interessiert“. Und wenn solche Informationen von persönlicher Bedeutung sind, steigt die Zahl derer mit sehr großem Interesse von 17 auf 31 Prozent. Bei Menschen mit niedrigerem sozialem Status ist das generelle Info-Interesse nur um fünf Prozentpunkte geringer. Ihr Problem ist die Informationsbeschaffung. 

Während unter den Befragten mit niedrigem sozialem Status jeder Vierte hier Schwierigkeiten einräumt, ist es unter denen mit hohem sozioökonomischem Status nur jeder Sechszehnte. Und nicht nur Verständlichkeit, sondern auch Vertrauenswürdigkeit und Zuverlässigkeit der Informationen etwa im Internet sowie die Identifikation von Falschinformation und manipulierter Information sind für viele ein große Klippe. „Wir müssen die Gesundheitskompetenz insgesamt verbessern und der gesamten Bevölkerung und besonders den vulnerablen Gruppen ermöglichen, souverän mit gesundheitsbezogener Information umgehen zu können“, fordert deshalb Doris Schaeffer, Leiterin des Interdisziplinären Zentrums für Gesundheitskompetenzforschung an der Universität Bielefeld und wissenschaftliche Beraterin der Studie. Solche Souveränität nämlich sei eine wichtige Voraussetzung, um dann auch selber „das Richtige zu tun“.

Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Allerdings zeigt sich beim Thema Prävention auch eine Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit: Obwohl vielen bewusst ist, dass sich bestimmte Verhaltensweisen positiv auf die Gesundheit auswirken können, setzt ein beträchtlicher Teil solche Maßnahmen nicht um. So verzichten nur 70 Prozent der Befragten nach eigenen Angaben auch tatsächlich aufs Rauchen – obwohl 82 Prozent der Befragten nach eigener Angabe genau wissen, dass Nichtrauchen wichtig ist, um gesund und fit zu bleiben. Und auch bei der Umsetzung einer gesunden Lebensweise im Alltag offenbaren sich soziale Unterschiede: So geben 78 Prozent der Menschen aus der Oberschicht an, aus Gesundheitsgründen aufs Rauchen zu verzichten. In der sozioökonomisch niedrigeren Schicht sind es nur 60 Prozent.

Die Studie stützt sich auf 1.255 mündlich geführte Interviews durch das Institut für Demoskopie Allensbach – in repräsentativer Quotenauswahl mit statistisch signifikantem  Querschnitt der Bevölkerung ab 16 Jahre. Die Befragungen erfolgten zwischen dem 1. und 12. September 2019.

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