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Birgit Steinborn. „Ein Siemens-Schaufenster in Berlin würde Sinn machen.“

© Thilo Rückeis

Siemens-Gesamtbetriebsratschefin: „Das Bild der Siemens-Familie bröckelt“

Birgit Steinborn, Gesamtbetriebsratschefin und stellvertretende Vorsitzende des Aufsichtsrats von Siemens, spricht über den Konzernumbau, Investitionen in Berlin und Vorstandschef Joe Kaeser

Frau Steinborn, Sie sind ungefähr so lange Betriebsratschefin wie Joe Kaeser Vorstandsvorsitzender, knapp fünf Jahre. Wie hat sich Siemens in der Zeit verändert?

Herr Kaeser wollte damals Ruhe ins Unternehmen bringen. Das haben wir begrüßt, denn die Belegschaft hatte nach den Jahren zuvor etwas Ruhe bitter nötig.

War das so schlimm?

Unter Kaesers Vorgänger Peter Löscher war eine neue Führungskultur mit mehr Durchgriff von oben etabliert worden. Das war wiederum ein Reflex auf die vorausgegangene Korruptionsaffäre und Compliance-Krise, denn es gab Bereichsvorstände, von denen am Ende niemand etwas gewusst haben wollte. Alle drückten sich vor der Verantwortung. Löscher hat das geändert, aber gleichzeitig entwickelte sich eine Angstkultur: Man hat sich nicht getraut, etwas Negatives nach oben zu melden, und hatte Angst, gegen Compliance-Regeln zu verstoßen.

Dann musste Löscher im Sommer 2013 wegen Erfolglosigkeit gehen.

Ja, und es gab durchaus Erleichterung in der Belegschaft, als Finanzvorstand Joe Kaeser Vorstandsvorsitzender wurde. „Endlich wieder einer von uns“, diese Einschätzung war verbreitet, denn Löscher war ja kein Siemensianer gewesen. Kaeser dagegen kannte das Unternehmen und hatte viel Erfahrung.

Und brachte Ruhe in den Konzern?

Nein. Es gab die Erwartung bei den langjährigen Siemensianern, „jetzt können wir uns endlich mal wieder um die Arbeit kümmern, alles wird besser“. Doch es wurde nicht ruhig und die Umstrukturierungen gingen erst richtig los. Kaeser schaffte die Sektoren ab und gliederte die Medizintechnik aus.

Den Bereich Healthineers, der dann im vergangenen März an die Börse kam.

Viele haben gefragt: „Wieso wird dieses Kerngeschäft ausgegliedert. Und wer kommt als Nächstes? Was passiert mit meinem Bereich?“ Und dann sind wir von einem Personalabbauprogramm zum nächsten gegangen. Das ist zermürbend und geht den Leuten auf die Nerven.

Und beschäftigt den Betriebsrat.

Seit mehreren Jahren verhandeln wir quartalsweise im Wirtschaftsausschuss Stellenabbauprogramme. Wenn wir den Bereich Mobility dazurechnen, die Zugsparte, die ja mit der französischen Alstom zusammengeht, dann haben wir in den vergangenen viereinhalb Jahren über die Ausgliederung von ungefähr 30 000 Beschäftigten und den Abbau von 15 000 Arbeitsplätzen verhandelt.

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Es gab aber, das ist ja auch typisch Siemens, keine Kündigungen.

Darauf sind wir stolz. Wir haben ein Abkommen, das betriebsbedingte Kündigungen ausschließt. Wir konnten auch Verlagerungen verhindern, indem wir andere Einsparmaßnahmen für die einzelnen Standorte verabredet haben.

Wie viele von den 15 000 Stellen sind dann tatsächlich weggefallen?

Ungefähr zwei Drittel, unter anderem durch Altersteilzeit oder Abfindungsprogramme auf freiwilliger Basis. Im Saldo ist die Beschäftigtenzahl sogar gestiegen: 2014 hatten wir 114 000 Arbeitsplätze in Deutschland, heute sind es 117 000.

In den letzten 20 Jahren hat sich aber die Beschäftigung hierzulande halbiert.

Dieser Prozess begann in den 1990er Jahren unter Heinrich von Pierer. Vor 30 Jahren waren ungefähr ein Drittel der Belegschaft im Ausland und zwei Drittel im Inland. Inzwischen hat sich das Verhältnis umgekehrt.

So ist das in einem globalen Konzern.

Das zeigt auch, dass wir den Strukturwandel, den Herr Kaeser so energisch reklamiert, schon seit vielen Jahren haben und bewältigen. Wir wollen aber nicht ständig neue Abbauprogramme präsentiert bekommen, sondern vorausschauend agieren. Dazu haben wir mit dem Management einen Zukunftspakt zur Gestaltung des Strukturwandels vereinbart.

Was wird da passieren?

Es geht um zusätzliche Mittel für die Qualifizierung von Mitarbeitern in den nächsten drei Jahren. Dafür stehen 100 Millionen Euro zur Verfügung. Wir sehen ja die Veränderungen an den Standorten, wollen aber nicht „hire and fire“, sondern die Menschen mitnehmen und fit machen. Die Digitalisierung bringt große Veränderungen. Mit dem Zukunftsfonds schaffen wir Freiräume für Weiterbildung und für die Gestaltung des Strukturwandels. Wandel heißt doch, dass etwas Neues entsteht – und nicht ständiger Stellenabbau.

Die digitale Fabrik ist ein hochprofitables Geschäftsfeld von Siemens. Ist der Konzern insgesamt schon „digitalisiert“?

Da ist unglaublich viel im Fluss, und die Betriebsräte und Belegschaften machen auch voll mit. Technikfeindlichkeit gibt es bei Siemens nicht, obwohl die Geschwindigkeit in den Veränderungsprozessen erheblich zugenommen hat. Gleichzeitig ist der Margendruck hoch – auch deshalb, weil die profitablen Bereiche andere Bereiche mit absichern, in denen es im Moment nicht so gut geht. Das ist der Vorteil eines Technologiekonzerns, der auf vielen Säulen steht.

Ist die größte Baustelle nach wie vor der Kraftwerks- und Energiebereich, zu dem auch das Berliner Gasturbinenwerk und das Dynamowerk gehören?

Ja, der Markt ist eingebrochen und es gibt weltweite Überkapazitäten. Wir stehen da mitten in Verhandlungen. Darüber hinaus sind die Berliner Siemens-Betriebsräte und die IG Metall aktiv geworden, um Perspektiven zu schaffen. Jetzt entwickelt Siemens gemeinsam mit dem Senat Konzepte, die einen Forschungscampus vorsehen, auf dem sich Siemens mit Berliner Forschungseinrichtungen, Universitäten und Start-ups verbinden kann. Es ist gut und wichtig, dass sich der Regierende Bürgermeister persönlich eingeschaltet hat.

Warum ist Berlin der richtige Platz?

Uns im Gesamtbetriebsrat ist wichtig, dass in Deutschland investiert wird und nicht nur irgendwo anders in der Welt. Deshalb erhoffe ich mir auch Unterstützung des Senats. Berlin ist Hauptstadt, hier gibt es viele Staatsgäste und wichtige Besucher aus aller Welt, und da Siemens auch von staatlichen und öffentlichen Aufträgen abhängt, würde ein Siemens- Schaufenster für alle möglichen Leistungen des Konzerns in Berlin Sinn machen.

Gibt es überhaupt noch das Siemens-Feeling, wie Sie es bisweilen beschwören?

Wir haben auch von der Siemens-Familie gesprochen: Einmal Siemens, immer Siemens, so war das viele Jahrzehnte. Ganz früher – noch vor meiner Zeit – gab es den Siemens-Beamten mit separaten Beamten-Eingängen in den Verwaltungsgebäuden. Siemens war ein patriarchalisch geführtes Unternehmen, in dem sich die Vorstände um die Mitarbeiter kümmerten und in dem Sozialleistungen ausgeprägt waren. Wir wollen nicht zurück in die alte Kultur, aber in den Gründerjahren war Siemens Vorreiter bei sozialen Leistungen, um gute Mitarbeiter zu bekommen. Daran sollten wir anknüpfen.

Hat Siemens Probleme, Leute zu finden?

Noch nicht. Es passiert ja auch immer noch eine Menge. Wir geben viel für Ausbildung aus, und die Aktienprogramme für die Mitarbeiter sind auch positiv. Aber: Die Bereiche, die separiert und ausgegliedert wurden, bekommen diese Programme nicht mehr, wenn wir Betriebsräte sie nicht absichern können. Da bröckelt dann das Bild der Siemens-Familie. Was wir kritisieren: Die Menschen werden nicht mitgenommen.

Gilt das auch für Kaesers „Vision 2020+“?

Diese Strategie ist ja erst mal auf einer hohen Flughöhe. Der einzelne Mitarbeiter kann das gar nicht für sich runterbrechen und erklären, was das alles soll. Umso wichtiger ist Kommunikation und gelebte Mitbestimmung, also die rechtzeitige Einbeziehung der Betriebsräte.

Immerhin bemüht sich Kaeser um Kontakt zu den Leuten – sein Besuch im sächsischen Görlitz hat dazu geführt, dass das Werk nicht geschlossen wird.

Das Ergebnis ist gut, aber vom Prozess her ist das schwierig: Im Wirtschaftsausschuss wird uns vom Management das Ende von Görlitz erklärt, weil es sich hinten und vorne nicht rechne. Und dann lesen wir ein paar Wochen später in der Presse, dass Herr Kaeser in Görlitz war und der Standort doch bleiben solle. Der öffentliche Druck hat offenbar gewirkt.

Vielleicht hat er verkannt, welche Erwartungen Öffentlichkeit und Politik immer noch an Siemens haben.

Das denke ich auch. Wir haben uns heftig gewehrt und klargemacht, dass man mit Menschen so nicht umgehen kann. Man kann eben nicht ein Super-Ergebnis verkünden und kurz darauf den Abbau von vielen tausend Arbeitsplätzen. Es gab ja auch heftige Reaktionen und wir haben viel Unterstützung bekommen. Selbst Vertreter großer Fonds haben bei der letzten Hauptversammlung Herrn Kaeser an die soziale Verantwortung erinnert.

Wird er der Verantwortung mit der „Vision 2020+“ gerecht?

Wir haben sehr deutlich gemacht, dass wir keine Aufspaltung des Unternehmens, sondern eine große Bandbreite an Geschäftsfeldern im Unternehmen erhalten wollen. Darauf konnten wir uns dann auch einigen.

Kaeser sagt „Zellteilung ist die Basis für neues Wachstum“.

Das muss er erst mal beweisen.

Das Gespräch führte Alfons Frese.

Birgit Steinborn (58) hat nicht nur wegen ihres Geburtsorts Siemensstadt eine besondere Beziehung zum Weltkonzern. Vater und Großvater und mancher ihrer Onkel arbeiteten bei Siemens. Einige lästerten, als Steinborn in den 1990er Jahren Betriebsrätin wurde. Nach der Ausbildung zur Industriekauffrau Ende der 1970er Jahre studierte Steinborn Soziologie und arbeitete in verschiedene Funktionen in Karlsruhe und Hamburg für Siemens. Seit 2013 ist sie Vorsitzende des Gesamtbetriebsrats der Siemens AG und seit 2015 stellvertretende Vorsitzende des Aufsichtsrats. Mit knapp 380 000 Beschäftigten kam Siemens 2017 auf gut 80 Milliarden Euro Umsatz und einen Gewinn nach Steuern von 6,2 Milliarden Euro.

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