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Noch herrscht Vielfalt. Doch russische Einzelhändler suchen bereits nach Ersatz. Preissteigerungen machen sich bereits bemerkbar.

© dpa

Russlands Einzelhandel nach Importstopp: Vaterland statt Vitamine

Während russische Kunden noch gelassen einkaufen, suchen die ersten Supermarktketten Ersatzlieferanten. In Russland, aber auch Ostasien und Lateinamerika. Einblicke in den Moskauer Einzelhandel.

Das nötige Kleingeld vorausgesetzt – wir reden von einem Monatseinkommen ab 80 000 Rubel, das sind umgerechnet etwa 1850 Euro – hatten die Moskowiter in hauptstädtischen Gourmet-Tempeln bisher die Qual der Wahl: Roquefort oder Gorgonzola, Parma- oder Serrano-Schinken, norwegischen oder schottischen Räucherlachs? Produkte des einstigen imperialistischen Klassenfeindes, wie sie die meisten Bürger zu Sowjetzeiten nur vom Hörensagen kannten, türmten sich schon kurz nach Ende der kommunistischen Mangelwirtschaft in den Regalen und begegneten den Kunden dort stets auf Augenhöhe. Um sich mit Köstlichkeiten der heimischen Küche zu versorgen, müssen sie sich in der Regel tief bücken oder auf die Zehenspitzen stellen.

Alles das könnte sich bald ändern. Als Reaktion auf westliche Sanktionen wegen Russlands Position in der Ukraine-Krise hatten Kreml und Regierung am vergangenen Donnerstag ein Importverbot für Lebensmittel aus der EU, den USA, Kanada, Australien und Norwegen verkündet. Auch wenn im Kurzmitteilungsdienst Twitter Bilder leergeräumter Kaufhausregale in Moskau zirkulieren, ist in den meisten Supermärkten bisher nichts zu spüren von diesem Import-Stopp. In den Kühlregalen gibt es nach wie vor mehrere Dutzend Sorten Joghurt, auch an den Frischetheken herrscht die lieb gewonnene Vielfalt, Südfrüchte wie Pfirsiche gibt es kistenweise. Noch.

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Metro versucht „drastische Preissteigerungen“ zu vermeiden

„Das Sortiment wird sich vorerst verkleinern“, heißt es beim französischen Einzelhändler Auchan, dem drittgrößten Lebensmitteleinzelhändler in Russland. Man plane jetzt, stärker mit russischen Zulieferern zusammenzuarbeiten. Auch die deutsche Metro Group, der nächstgrößere Akteur im russischen Einzelhandel nach Auchan, sucht vor allem in Russland nach Ersatz. Nebenwirkungen nicht ausgeschlossen. „Wir versuchen aber drastische Preissteigerungen und Lieferengpässe zu vermeiden“, sagte eine Konzernsprecherin dem Tagesspiegel.

Ob Ersatzlieferungen schon jetzt nötig sind, wissen nur die Lageristen und Verkäufer in Supermärkten und bei den Großhändlern. Und die haben inzwischen offenbar Anweisung, sich bei einschlägigen Fragen der Kunden für unzuständig zu erklären.

„Ein paar Wochen halten wir schon durch“, glaubt Anastassija. Die wasserstoffblonde, extrem schlanke Endzwanzigerin ist „Brand Managerin“ eines Supermarktes. Sie soll also dafür sorgen, dass die Marke immer im rechten Licht steht. Und die Marktangestellte Marija sagt, sie bange nicht um ihren Arbeitsplatz. Irgendwie finde sich immer eine Lösung. „Und Putin weiß, was er tut. Unser Präsident hat vorher alle möglichen Varianten durchspielen lassen“.

Die meisten Kunden sehen das ähnlich gelassen. Von Hamsterkäufen und Panik wie in der Perestroika ist bisher nichts zu merken, die Schlange an der Kasse nicht länger als sonst. Und die Gespräche der Wartenden drehen sich um alles. Nur nicht um das vermeintliche Menschenrecht auf frische Erdbeeren im Januar.

Vom Shitstorm in sozialen Medien einmal abgesehen – Patriotismus statt Parmesan, nein danke! – kritisierten viele an dem Embargo nur, dass es längst überfällig gewesen sei. „Der Westen“, echauffiert sich Inna, Besitzerin eines Schönheitssalons, der auch Ratschläge für gesunde Ernährung gibt, „hat uns jahrelang systematisch vergiftet“. Nitrat-Belastung und Salzgehalt von Frischwurst made in Europa seien grenzwertig. Natürlich habe auch sie probiert, als „dieser Mist“ kurz nach dem Ende der Sowjetunion 1991 auftauchte. Schnell sei sie dann wieder auf russische Erzeugnisse umgestiegen. „Da weiß man, was man hat!“

Russische Landwirte können Importstopp vorerst nicht ausgleichen

Was Inna wie viele andere Russen jedoch nicht weiß oder verdrängt: Auch in russischer Wurst – und davon gibt es inzwischen Dutzende gute Sorten – steckt jede Menge polnisches Fleisch. Das dürften viele Kunden später merken als das Verschwinden von Erzeugnissen holländischer Kaaskunst, aber dann umso schmerzlicher.

Denn russische Landwirte sind – da sind sich Experten weitgehend einig – so bald nicht in der Lage, den Bedarf zu decken. Weder bei Fleisch noch bei Milch. Sie produzieren nicht nur zu wenig, sondern auch zu teuer. Schuld sind vor allem die Zwischenhändler, die sogenannten Agenten. Ein Relikt aus den ersten Jahren nach dem Systemwechsel, als Produzenten, Groß- und Einzelhändler neu miteinander verlinkt werden mussten. Die Agenten zockten dabei alle Akteure ab. Das Rennen, so Branchenexperte Iwan Golubjew, machten westliche Lebensmittelkonzerne und die EU-Landwirte, die dank hoher Subventionen die russische Konkurrenz „glatt vom Markt fegten“.

Hersteller aus Russland nutzen Embargo für Preissteigerung

Das Missverhältnis, fürchtet Golubjew, lasse sich in ein paar Wochen nicht korrigieren. Mehr Zeit aber haben – bei Strafe des politischen Untergangs – Premier Dmitri Medwedew und seine Regierung nicht. Verhandlungen mit Südafrika, der Türkei und Argentinien, laufen daher auf Hochtouren. Mit dem Russland-Geschäft, so hofft Buenos Aires, lasse sich auch der eigene Staatsbankrott abwenden. „Bei uns“, sagte ein argentinischer Exporteur im russischen Fernsehen „herrscht zum Großteil das gleiche milde Klima wie in Südrussland. Wir können daher alles liefern. Außer Schweinefleisch“. Doch da hockt Brasilien schon als Lieferant in den Startlöchern. Dort wird auch der Mittelstreckenjet Embraer gebaut, sollte der Konflikt länger anhalten und künftig Ersatz für Flugzeuge der beiden Hersteller Airbus (EU) und Boeing (USA) benötigt werden.

Auf lateinamerikanische Produzenten setzt nun der größte russische Lebensmittelhändler X5 Retail. „Daneben werden wir aber auch in Ostasien Lieferanten suchen“, sagte Konzernsprecher Wladimir Rusanow dem Tagesspiegel. Insgesamt beträfe der Import-Stopp aber höchstens zehn Prozent des Sortiments seiner Kette, sagte er.

Russlands größtes Problem sind daher mittel- und langfristig wohl nicht leere Supermarktregale, sondern das Missverhältnis von Angebot und Nachfrage, das die russischen Hersteller für sich nutzen. Der Fischkonzern Russkoje More verlangt für ein Kilo frischen Lachs in Moskau bereits 600 Rubel: etwa zwölf Euro, dreimal so viel wie bisher.

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