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Börsianer blieben entspannt. Der Dax drehte nach anfänglichen Verlusten sogar ins Plus.

© dpa

Reaktionen auf das Jamaika-Aus: Die Wirtschaft ist verärgert, aber nicht panisch

Das Aus der Jamaika-Verhandlungen bedeutet Unsicherheit, die Firmen gar nicht mögen. Weil die Wirtschaft aber kräftig wächst, ist das politische Wirr Warr verkraftbar, meinen Experten.

Von Carla Neuhaus

Wenn Unternehmer eins nicht mögen, dann ist das Unsicherheit. Entsprechend besorgt haben viele Wirtschaftsvertreter auf das Aus der Jamaika-Gespräche reagiert. „Wirtschaftliche Stabilität braucht politische Stabilität“, so formulierte es Dieter Kempf, Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI). Dass die Parteien erst wochenlang sprechen und dann die Verhandlungen platzen lassen, hält er für „unbefriedigend“. Auch Holger Bingmann, Präsident des Außenhandelsverbands (BGA), war empört. „Die Sehnsucht nach der Oppositionsrolle statt den Gestaltungsauftrag anzunehmen, scheint zu grassieren“, kritisierte er. „Das ist geradezu demokratieschädlich.“

Wie es nun aber weitergehen soll, darüber sind die Wirtschaftsvertreter uneins. Ein Teil von ihnen hofft, dass es das noch nicht war mit der Jamaika-Koalition und Union, FDP und Grüne doch an den Verhandlungstisch zurückkehren. „Noch sind hoffentlich nicht alle Stricke gerissen“, meinte zum Beispiel Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). „Die Jamaika-Parteien müssen einen neuen Anlauf machen, denn sie wissen, für keine von ihnen würden Neuwahlen Erfolg versprechen.“

"Alle Parteien müssen jetzt Kompromisse eingehen"

Achim Berg, Präsident des IT-Verbands Bitkom, sah das ähnlich. „Bei allem Verständnis für Schmerzgrenzen und rote Linien von Parteien und Fraktionen: Politik ist die Kunst des Kompromisses“, sagte er. Die Parteien müssten deshalb nun einen neuen Anlauf starten – „in welcher Konstellation auch immer“.
Überhaupt appellierten die meisten Wirtschaftsvertreter an die Vernunft der Politiker. Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer rief sie dazu auf, sich „auf ihre staatspolitische Verantwortung zu besinnen“. Man müsse jetzt bereit sein, „parteipolitische Grenzziehungen zu überwinden“. Sturheit sei jetzt fehl am Platz. BDI-Präsident Kempf meinte, alle Parteien müssten nun bereit sein, Kompromisse einzugehen.
Christoph Minhoff, der die Interessen der Ernährungsindustrie vertritt, sieht dagegen die SPD in der Pflicht – eine Meinung, die nur wenige Wirtschaftsvertreter mit ihm teilen. Laut Minhoff sind die Sozialdemokraten nun aufgefordert, „ihre Position zu überdenken und ihre staatspolitische Verantwortung wahrzunehmen“. Das sagte er allerdings noch bevor die SPD verkündete, weiterhin für eine große Koalition nicht zur Verfügung zu stehen.

Manche fänden eine Minderheitsregierung nicht so schlimm

Andere Wirtschaftskenner können dagegen durchaus auch einer Minderheitsregierung etwas abgewinnen. Ifo-Chef Clemens Fuest sagte zum Beispiel, das biete die Chance, „dass die Rolle des Parlaments gestärkt wird und über einzelne politische Entscheidungen ausführlicher und offener diskutiert wird“. Er erinnerte daran, dass skandinavische Länder ebenso wie Kanada durchaus gute Erfahrungen mit Minderheitsregierungen gemacht hätten. Dass die Regierungsarbeit dadurch aber nicht leichter würde, sei klar. Sollte es zu einer Minderheitsregierung kommen, würde das die Politik schließlich weniger berechenbar machen. So gab auch Fuest zu, dass die „wachsende Unsicherheit über den Kurs der Wirtschaftspolitik“ ein ernst zu nehmendes Risiko ist, wenn eine Regierung ohne eigene Mehrheit agiert.
Auch deshalb glaubt Holger Sandte, Europa-Chefvolkswirt beim Finanzkonzern Nordea, eher, dass es Neuwahlen geben wird. Anders als nach Meinung mancher Verbandsvertreter wäre das aus seiner Sicht auch kein Drama. Zwar verlängere das die Phase der politischen Unsicherheit. Doch Sandte sagte: „Der daraus erwachsende volkswirtschaftliche Schaden dürfte gering sein.“ Dafür ginge es der deutschen Wirtschaft zu gut.

Die starke Wirtschaft hilft

Überhaupt ist die starke Konjunktur in Deutschland ein Glück. So steht die Politik weniger stark unter Zugzwang, als das in einer Phase des Abschwungs der Fall gewesen wäre. Auch gehen die meisten Ökonomen davon aus, dass das politische Wirrwarr zumindest kurzfristig keine großen Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum haben dürfte. Deutschland erlebe einen „langen und robusten Aufschwung“, sagte der Wirtschaftsweise Christoph M. Schmidt. Daran ändere auch das Aus der Jamaika-Verhandlungen vorerst nichts. Ähnlich äußerte sich Commerzbank- Chef Martin Zielke. „Wir haben eine überraschend starke Wirtschaft, und das wird erst mal so bleiben“, sagte er am Rande einer Veranstaltung in Berlin. Dass das auch viele Anleger so sehen, ließ sich am Montag an den Aktienkursen ablesen. Der Leitindex Dax gab am Vormittag zwar etwas nach, drehte dann aber sogar ins Plus. Zumal es durchaus auch Unternehmen gibt, für die das Aus der Jamaika- Verhandlungen von Vorteil ist. Der Energiekonzern RWE profitiert zum Beispiel, weil nun die Stilllegung der Kohlekraftwerke – eine Forderung der Grünen – zumindest verzögert wird.

Dagegen fürchten einzelne Branchen aber auch Nachteile. So äußerte Oliver Süme vom Verband der Internetwirtschaft (Eco) Bedenken, die politische Unsicherheit könne sich negativ „auf den Digitalstandort Deutschland auswirken“. Er sagte: „Trotz geplatzter Sondierungsgespräche braucht man zügig ein stimmiges Gesamtkonzept, das die Digitalisierung von Gesellschaft und Wirtschaft vorantreibt.“

Langfristig gibt es viele Herausforderungen

Mittel- bis langfristig sind die Unternehmen also auf eine handlungsfähige Bundesregierung angewiesen. Zumal schon jetzt Ökonomen darauf hinweisen, dass der aktuelle Wirtschaftsaufschwung nicht ewig anhalten wird. „Die derzeit stabile wirtschaftliche Lage unseres Landes sollte uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir mutige Entscheidungen für die Zukunft brauchen“, sagte Eric Schweitzer, Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK). Er erneuerte seine Forderung nach mehr Investitionen „in kluge Köpfe, in Straßen und Leitungen sowie in Forschung und Entwicklung“.

Ökonom Schmidt erinnerte derweil an die Herausforderungen, vor denen Deutschland so oder so mittel- und langfristig steht: der demografische Wandel, die Digitalisierung, die Weiterentwicklung der Europäischen Union und der Klimawandel. „Darauf muss eine neue Bundesregierung zukunftsfähige und belastbare Antworten finden“, sagte Schmidt.

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