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Stephan Schwarz, Präsident der Handwerkskammer Berlin und Geschäftsführer der Gebäudereinigungsfirma GRG Services.

© Mike Wolff

Präsident der Handwerkskammer Berlin im Interview: „Wir brauchen die Flüchtlinge“

Stephan Schwarz, Unternehmer und Präsident der Handwerkskammer Berlin über die Motivation von Flüchtlingen, den Fachkräftemangel und die Digitalisierung im Mittelstand.

Herr Schwarz, das Berliner Handwerk steht seit Jahren auf goldenem Boden. Warum gibt es trotz dieser Superkonjunktur Hilfe vom Steuerzahler?

Das Handwerk gehört ganz gewiss nicht zu den Wirtschaftszweigen, die viel Fördermittel bekommen. Sie sprechen das „Aktionsprogramm Handwerk“ an, das wir zu Beginn des Jahres mit dem Senat aufgelegt haben. Es geht dabei vor allem um verbindliche Verabredungen zum Beispiel zu weniger Bürokratie oder der Vergabe öffentlicher Aufträge.

Mit welchen Ergebnissen?

Zum Beispiel wurde bei der Auftragsvergabe die Wertgrenze, ab der öffentlich auszuschreiben ist, hoch gesetzt. Es kann also künftig mehr freihändig oder beschränkt vergeben werden. Das ist gut für Auftraggeber und -nehmer.

Wie relevant sind öffentliche Aufträge überhaupt für das Handwerk?

Das hängt von der Branche ab. Im Bereich Gebäudereinigung liegt der Anteil sicher über 50 Prozent. Grundsätzlich gibt es im Moment das Problem für die öffentliche Hand, dass in der Phase der Hochkonjunktur die Betriebe kein Interesse daran haben, sich mit viel Bürokratie herumzuschlagen. Die öffentlichen Auftraggeber brauchen also auch ein erleichtertes Verfahren, um überhaupt Firmen zu finden.

Und die Betriebe können höhere Preise durchsetzen.

Ja, im Bereich Bau und Baunebengewerken gibt es deutliche Preisanstiege. Zuvor hatten wir aber auch über viele Jahre keine auskömmlichen Preise, was im Baugewerbe einherging mit dem Niedergang von 50 000 auf 10 000 Beschäftigte.

Gebaut wird in Berlin an allen Ecken und Enden, aber wie geht es den anderen Handwerksbereichen?

Durchweg gut. Das Kfz-Gewerbe, über viele Jahre ein Sorgenkind, hat sich erholt. Auch im Lebensmittelhandwerk, zum Beispiel Bäcker und Fleischer, geht es deutlich besser.

Kaufen die Leute nicht beim Discounter?

Die Menschen haben mehr Geld. Das merken wir in den Branchen, die stark von der privaten Kaufkraft abhängen. Nachdem die Realeinkommen über sehr lange Zeit bestenfalls stagnierten, geht es nun etwas aufwärts. Sparen bringt nicht viel, also geben die Leute das Geld aus.

Gibt es genügend Handwerker in der wachsenden Stadt, die ja jedes Jahr um rund 40 000 Einwohner größer wird?

Wir haben gut 30 000 Betriebe in Berlin, und die entwickeln sich mit dem Markt: Wenn die Nachfrage steigt, dann vergrößern sich die Betriebe oder es kommen neue hinzu, bei den Fleischern war das zum Beispiel in den vergangenen Jahren gut zu sehen.

Wie lange muss ich warten, wenn ich in diesen Tagen einen Maler oder Fliesenleger bestelle?

Konkret lässt sich das nicht beantworten. Die gute Kapazitätsauslastung kann man den Betrieben ja nicht vorwerfen. Aber Nachfrage und Auftragslage sind groß, da muss der Kunden eben etwas warten.

In aller Munde sind die Verheißungen der Digitalisierung, häufig unter dem Begriff Industrie 4.0. Geht das am Handwerk vorbei?

Keineswegs. Es gibt heute schon Heizungsunternehmen, bei denen die Kunden ein gutes Dutzend Daten aus ihrem Haus per Mail abliefern und dann ein Angebot per Mail bekommen. Oder Dachdecker, die zur Schadenserfassung nicht mehr auf das Dach klettern, sondern eine Drohne mit Kamera über das Gebäude fliegen lassen. Und der 3-D-Drucker wird viele Bereiche revolutionieren.

Im Handwerk?

Klar, zum Beispiel im Baugewerbe, wenn Modelle oder Bauteile gebraucht werden. In wenigen Jahren wird in jedem Werkstattwagen ein 3-D-Drucker stehen, und wenn eine Schelle oder ein Rohr gebraucht wird, gibt der Monteur das auf dem Laptop ein und lässt das Teil dann drucken.

Dann kommt das Werk künftig nicht mehr von der Hand?

Das geht Hand in Hand. Ein Merkmal von Handwerk ist ja, im Gegensatz zur industriellen Fertigung, die individuelle Leistung. Das spezielle Produkt nach Kundenwunsch, Maßarbeit statt Serie, das bleibt Handarbeit.

Offenbar zieht das zunehmend die Jugend an: Bis Ende Juli haben die Handwerker in der Stadt gut ein Viertel mehr Ausbildungsverträge abgeschlossen als im Vorjahreszeitraum. Wie erklärt sich das?

Wir tun eine Menge dafür. Mit mehr als 400 Schulpartnerschaften zum Beispiel oder unserer Imagekampagne. Sehr oft haben Schülerinnen und Schüler keine oder falsche Vorstellungen von den Inhalten in den insgesamt 130 Handwerksberufen. Wir informieren viel und müssen noch mehr informieren.

Wo gibt es noch Ausbildungsplätze?

In fast allen Bereichen. Wer bislang nicht versorgt ist, der bekommt unter der Berliner Telefonnummer 259 035 55 bei der Handwerkskammer Informationen über freie Plätze.

Wie funktioniert denn „Arrivo“, das Integrationsprogramm des Senats für Flüchtlinge?

Sehr gut. Knapp 50 Teilnehmer haben wir inzwischen in dem Programm, und die Betriebe und Innungen sind begeistert. Die Leute sind extrem motiviert und engagiert, lernen schnell die Sprache und sind auch fachlich gut.

Wer sucht die Leute aus?

Teilweise kommen die über die Jobcenter, teilweise durch direkte Ansprache in den Unterkünften oder durch Mundpropaganda und die Volkshochschulen, in denen die Sprachkurse laufen. Das Motivationsniveau ist sensationell. Für uns passt das richtig zusammen: Fachkräftemangel und viele Flüchtlinge. Ich mache da übrigens keinen Unterschied: Ob jemand Wirtschaftsflüchtling ist oder „richtiger“ Asylsuchender, der verfolgt wurde. Jemand, der eine neue Lebensperspektive sucht, ist mir ebenso willkommen, wie ein Mensch aus einem Bürgerkriegsland. Ich finde das in der öffentlichen Diskussion auch abstoßend: Hier sind die guten und da die bösen Flüchtlinge.

Die Rechtslage trägt dazu bei.

Und die Rechtslage erschwert es uns auch, die Flüchtlinge zu integrieren. Ein Praktikum ist inzwischen relativ einfach, eine Ausbildung schon schwieriger. Und ob er oder sie nach der Ausbildung hier bleiben darf, ist völlig unsicher. Darf jemand bleiben oder nicht – diese Fragestellung geht am Thema vorbei. Wir brauchen Einwanderung, und zwar bis zum Jahr 2050 jährlich gut 500 000 Menschen – netto. Wir müssen geordnete Zugänge schaffen auch für Wirtschaftsflüchtlinge, die hier leben und arbeiten wollen. Dazu bedarf es eines Zuwanderungsgesetzes.

Wer ausgebildet wurde, soll bleiben dürfen?

Ja. Wer hier arbeitet und Steuern und Sozialbeiträge zahlt – warum sollen wir den ausweisen? Ohne die Zuwanderung werden wir unseren Wohlstand nicht halten können.

In Ihrem Unternehmen arbeiten Menschen aus 70 Nationen. Wie funktioniert das?

Arbeit ist ja ein ganz wesentlicher Faktor für Integration. Wenn Leute zusammen arbeiten, lernen sie sich kennen und bauen Vorurteile ab. Deshalb müssen die Flüchtlinge ja auch so schnell wie möglich raus aus ihren Unterkünften und in die Arbeitswelt.

Und damit ist der Fachkräftemangel behoben?

Natürlich nicht, das ist ein Punkt. Vor 20 Jahren waren wir in unserer Firma vor allem damit beschäftigt, Aufträge zu akquirieren, einen Kampf um die Kunden zu führen. Heute kämpfen wir um Mitarbeiter. Und das wird sich noch verstärken. Arbeitgebermarketing ist für uns eine der wichtigsten strategischen Herausforderungen. Und natürlich gute Führung. Fluktuation und der Krankenstand zum Beispiel stehen in engem Zusammenhang mit der Führung und dem Fürsorgeverhalten im Unternehmen.

Ist der Fachkräftemangel jetzt schon die größte Wachstumsbremse?

Ja, natürlich vor allem im Dienstleistungsbereich. Zwischen 2010 und 2015 ist unser Unternehmen um rund 50 Prozent gewachsen, das wäre ohne besondere Personalfürsorge nicht möglich gewesen.

Mindestens die nächsten vier Jahre werden Sie noch als Handwerkspräsident Einfluss nehmen auf die Berliner Wirtschaftspolitik. Freuen Sie sich, wenn Michael Müller nach der Wahl im Herbst 2016 Regierender Bürgermeister bleibt?

Er kommt aus einem Handwerksbetrieb und ist dort sozialisiert worden, das tut der gesamten, mittelständisch strukturierten Wirtschaft natürlich gut. Müller kennt die Probleme, er weiß, wie schwer es ist, Mitarbeiter zu finden oder Gewerberäume, wie es ist, wenn ein Kunde nicht zahlt und wie lästig die Bürokratie sein kann. Er kennt die Probleme der Wirtschaft aus erster Hand, und das merkt man auch in der Senatspolitik, wo das Verständnis für die Belange der Wirtschaft zugenommen hat.

Welche Akzente erhoffen Sie sich in den kommenden Jahren?

Eine richtige, langfristige Planung der Stadt zum Thema „Smart City“ – von der Energieerzeugung, über Gebäudesanierung und Energiesteuerung bis zum Verkehr. Das wird auch wegen des Klimawandels ein riesiges Thema.

Das Gespräch führte Alfons Frese

KARRIERE

Stephan Schwarz, im Mai 1965 in Berlin geboren, studierte Geschichte und Philosophie an der FU und der Pariser Sorbonne. Er ist geschäftsführender Gesellschafter des Reinigungsunternehmens GRG Services Group, das sein Großvater 1920 gegründete hatte. Die Firma mit Sitz in Reinickendorf beschäftigt derzeit rund 3400 Mitarbeiter, davon 1600 in Berlin. Seit 2003 ist Schwarz Präsident der Handwerkskammer Berlin.

KAMMER

Zur Handwerkskammer (HWK) gehören derzeit rund 30 000 Betriebe mit etwa 180 000 Beschäftigten und 13 000 Azubis. Im Rahmen der Selbstverwaltung kümmert sich die Kammer um die Ausbildung, führt die Handwerksrolle, überwacht die Innungen und berät ihre Mitglieder in allen möglichen Angelegenheiten. Ebenso wie die IHK vertritt die HWK die Interessen des Handwerks gegenüber der Politik.

Die Debatte über gute oder schlechte Flüchtlinge findet der Präsident der Berliner Handwerkskammer, Stephan Schwarz, absurd.
Die Debatte über gute oder schlechte Flüchtlinge findet der Präsident der Berliner Handwerkskammer, Stephan Schwarz, absurd.

© Mike Wolff

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