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Bundesgesundheitsminister Jens Spahn: Beitragszahler und Krankenkasse müssen großen Teil der Corona-Kosten tragen.

© Markus Schreiber/AFP

Mehr als drei Milliarden Euro fehlen: Spahn bittet Beitragszahler nun doch für Corona-Kosten zur Kasse

Das coronabedingte Defizit der gesetzlichen Krankenversicherungen wird nur zum Teil vom Bund finanziert. Den Rest sollen Versicherte und Krankenkassen zahlen.

Seit gestern sind die gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) um eine Hoffnung ärmer. Bereits am Montag haben sich Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) und Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) auf ein Finanztableau für 2021 verständigt, mit dem die Kassen verpflichtet werden, die Hauptlast der Folgen der Coronavirus-Krise im Jahr 2021 zu schultern. 

Nur um fünf Milliarden soll der für versicherungsfremde Leistungen jährlich zu zahlende Bundeszuschuss von 14,5 Milliarden Euro 2021 ausnahmsweise erhöht werden. So steht es in einem anderthalbseitigen Papier zur „Umsetzung der Sozialgarantie“, das am Dienstag vom Bundesgesundheitsministerium an die Kassenverbände verschickt wurde.

Für die restliche Summe müssen die Beitragszahler über steigende Zusatzbeiträge und die Kassen aus ihren Rücklagen aufkommen. Mit der am 3. Juni beschlossenen Sozialgarantie hatte sich die Koalition verständigt, die Sozialabgaben im Zuge der Coronakrise nicht über 40 Prozent steigen zu lassen.

Bei den Chefs der über 100 Krankenkassen nährte das die Hoffnung, dass der Bund den Hauptteil der Kosten der Pandemiefolgen übernimmt und das für 2021 erwartete Defizit von über 16 Milliarden Euro weitgehend aus Steuergeldern bezahlt werden wird.

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Dies auch deshalb, weil Gesundheitsminister Spahn das Geld der Versicherten derzeit mit beiden Händen für die Bewältigung der Pandemie ausgibt und dabei Gesundheitsfonds und Kassen auch mit Ausgaben belastet, die eigentlich von der gesamten Bevölkerung, also über Steuern, finanziert werden müssten – zum Beispiel massenhafte Tests oder die durch den Lockdown notwendig gewordenen Rettungsschirme für Ärzte und andere Leistungserbringer.

Spahn kommt bei seinem teuren Plan der Umstand entgegen, dass die Kassen insgesamt in Folge des Wirtschaftsbooms der vergangenen Jahre Rücklagen im Umfang von 20,6 Milliarden gebildet haben, was dem Fünffachen der gesetzlichen Mindestreserve von 0,2 Monatsausgaben entspricht.

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Diese Reserven sind höchst ungleich verteilt. Daher will Spahn die reicheren Kassen verpflichten, von allen Rücklagen oberhalb von 0,4 Monatsausgaben 66 Prozent in den Gesundheitsfonds abzugeben. So sollen insgesamt acht Milliarden Euro zusammen kommen. Die noch fehlenden mehr als drei Milliarden Euro sollen die 50 Millionen Kassenmitglieder über höhere Zusatzbeiträge aufbringen. Im Durchschnitt soll der Zusatzbeitrag um 0,2 Prozentpunkte auf 1,3 Prozent angehoben werden.

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Damit würden die Sozialabgaben von derzeit 39,75 Prozent auf durchschnittlich 39,95 Prozent steigen, blieben also knapp unter 40 Prozent. Allerdings ist in dieser Rechnung der Beitragszuschlag in der Pflegeversicherung für Kinderlose von 0,25 Prozent nicht berücksichtigt.

Spahn greift mit diesem Manöver Vorschläge auf, die einige Kassenchefs bereits am Anfang der Corona-Krise gemacht haben. So hatte der Vorstandschef der BKK Viactiv, Reinhard Brücker, angeregt, Corona als Gelegenheit wahrzunehmen, das durch Fehler im Finanzausgleich bei einigen Kassen zu Unrecht entstandene Vermögen für die Finanzierung der Krise einzusetzen.

Reinhard Brücker, Vorstandsvorsitzender der BKK Viactiv, hält den Stichtag für falsch gewählt.
Reinhard Brücker, Vorstandsvorsitzender der BKK Viactiv, hält den Stichtag für falsch gewählt.

© Repro

Brücker billigte Spahns Vorgehen daher gestern auch grundsätzlich. Allerdings hält er den Stichtag 30. Juni 2020, zu dem das Vermögen gemessen werden soll, für falsch gewählt. „Viele Krankenkassen fahren derzeit mit nicht kostendeckenden Beitragssätzen und lösen Rücklagen auf.“ Stichtag müsse daher fairerweise der 31.12.2020 sein. Im Krankenkassenlager hatte Brücker mit seinem Vorstoß seinerzeit viel Unmut ausgelöst. Den gab es auch am Dienstag für das „Maßnahmenpaket“ der beiden Minister.

Ulrike Elsner, Vorstandschefin des Ersatzkassenverbands, nannte die Entscheidung, den durchschnittlichen Zusatzbeitrg auf 1,3 Prozent anzuheben, ein „fatales Signal gegenüber den Beitragszahlern und der Wirtschaft“. AOK-Chef Martin Litsch sagte, es sei ein Fehler, dass das Gros der 16,6 Milliarden Euro nun allein vom Beitragszahler aufgebracht werden müsse. „Es gibt auch andere Akteure, die an der Finanzierung der Pandemie beteiligt werden sollten.“

So verfüge die Pharmaindustrie über große Einsparpotenziale. Konkret forderte er, den Herstellerabschlag auf patentgeschützte Arzneitmittel zu erhöhen und den Preismechanismus für diese oft sehr teuren Medikamente zu reformieren. Eine Forderung, die gestern auch der TK-Bundesverband erhob, und zwar im Zusammenhang mit dem Innovationsreport 2020.

Franz Knieps, Vorstandschef des Dachverbands der Betriebskrankenkassen, zeigte sich sehr enttäuscht. Fünf Milliarden Steuerzuschuss seien viel zu wenig. „Wir halten die Steuerfinanzierung der vollen Summe angesichts der jetzt schon absehbaren wirtschaftlichen Folgen der Pandemie im Jahr 2020 sowie der grundsätzlichen Dynamik der Ausgabenentwicklung ausnahmsweise für geboten“, so Knieps.

Den Griff in die Rücklagen der Kassen im Umfang von acht Milliarden Euro kritisierte Knieps als „Sozialisierung eines Teil der Beiträge der gesetzlich Versicherten und ihrer Arbeitgeber in Deutschland“.

Forderung nach Sonderregelungen für kleinere Kassen

Die Kassen bräuchten dieses Geld aber gerade jetzt, „um für die absehbar anstehenden Herausforderungen und die Gestaltung einer pandemiefesten Struktur unseres Gesundheitssystems gewappnet zu sein“. Er forderte vor allem für kleinere Kassen Sonderregelungen. Sie seien auf ihre Rücklagen besonders angewiesen, um unvorhersehbare Zusatzbelastungen tragen zu können.

Tatsächlich dürfte der starke Aderlass bei den Rücklagen zu schweren Verwerfungen bei etlichen Kassen führen. Hauptbetroffene sind die reichen Ortskrankenkassen wie die AOK Sachsen-Anhalt oder die AOK Plus, die Techniker Krankenkasse und die HKK. Bei ihnen allein konzentrieren sich rund neun Milliarden Euro der Rücklagen von zuletzt 20 Milliarden Euro.

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Vor allem diese Kassen hat Spahn mit seinem Versichertenentlastungsgesetz gezwungen, ab 2020 ihre Rücklagen durch einen nicht kostendeckenden Zusatzbeitrag innerhalb von drei Jahren auf bis zu eine Monatsausgabe abzuschmelzen. Sie haben bereits ihre Beiträge entsprechend gesenkt. Nun verlieren sie aber einen Großteil dieser Rücklagen in einem Schritt. In der Folge müssen sie 2021 die Zusatzbeiträge besonders stark erhöhen.

Aus Angst Mitglieder zu verlieren, haben aber auch Kassen mit weniger Rücklagen strukturell schon heute keinen kostendeckenden Zusatzbeitrag mehr. So schlossen alle Ersatzkassen außer der KKH bereits das vergangene Jahr mit einem Minus ab. Bei großen Betriebskrankenkassen sieht es ähnlich aus. Damit ist die Gefahr groß, dass 2021 der durchschnittliche Zusatzbeitrag am Ende um mehr als die von Spahn kalkulierten 0,2 Prozentpunkte steigen muss.

Dem baut der Minister nun vor. Er kündigte an, die Grenze absenken zu wollen, ab der eine Kasse den Zusatzbeitrag erhöhen kann. Bisher geht dass, wenn die Reserven im letzten Quartal unter eine Monatsausgabe rutschen. In Zukunft sollen es 0,8 Monatsausgaben sein. So würden Finanzreserven stärker eingesetzt, um Erhöhungen zu vermeiden, heißt es in dem Papier. Der Steuerzuschuss von fünf Milliarden Euro soll bereits am 23. September vom Bundeskabinett verabschiedet werden.

Peter Thelen

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