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Stephan Schulmeister

© imago / Metodi Popow

Marktkritiker Stephan Schulmeister: „So ein System zerstört sich auf Dauer selbst“

Der Ökonom erklärt im Interview, wie es sein kann, dass die Aktienkurse in der Krise so schnell wieder stiegen. Und warum er keine Inflation fürchtet.

Von Jonas Bickelmann

Stephan Schulmeister ist Jurist und Ökonom, er war 40 Jahre lang am österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung tätig. Zur Frage Was macht Corona mit dem Kapitalismus? sprechen wir außerdem mit einer Transformationsforscherin, einer Kreuzfahrtmanagerin und einem Kapitalismustheoretiker.

Herr Schulmeister, 750 Milliarden Wirtschaftshilfen in der EU, auch in Deutschland das größte Hilfsprogramm aller Zeiten… Beispiellose Zahlen.
Ja, sicher, zumindest in Friedenszeiten. Im Krieg wurde noch mehr ausgegeben. Ich bemesse das an den Budgetdefiziten, die dadurch verursacht werden. Das sind etwa 10 Prozent des BIP. Das gab es bisher nur in den USA nach der Finanzkrise.

Wenn sie von Kriegszeiten sprechen… Kann man die Hilfen mit dem Marshallplan vergleichen?
Der war viel kleiner, das waren zum großen Teil keine Finanzhilfen, sondern kostenlos gelieferte Maschinen oder etwa hier in Wien Straßenbahnzüge. Natürlich hat das der zerstörten Wirtschaft in Europa sehr geholfen, damals hätte die Industrie diese Güter gar nicht herstellen können.

Das ist jetzt anders, ein Lockdown wie wir ihn hatten ist aber auch beispiellos.
Ja, das ist eine historisch einzigartige Situation.

Und was wird sie bewirken?
Ich interpretiere die ganze Situation so: Die Pandemie macht eine Systemkrise offenkundig, die sich bereits seit Jahrzehnten ausbreitet. Ihre wichtigsten Merkmale sind, dass Profitstreben sich immer weniger auf die realwirtschaftliche Produktion bezieht, sondern auf Finanzgeschäfte.

So ein System zerstört sich auf Dauer selbst, denn Geld arbeitet ja nicht. Man kann mit Aktien reich werden, aber das sind reine Bewertungsgewinne. Produziert wird nichts. Noch in den 50er und 60er Jahren haben die Profite gemacht, die in der Realwirtschaft Werte geschaffen haben, zum Beispiel Wohnungen.

Aber wie hängt das jetzt mit Corona zusammen?
Durch die Finanzkrise ab 2008 hatte das System einen massiven Schock erlitten – aber es wurde nicht verändert. Darüber bricht jetzt die Coronakrise herein und legt alle Schwächen frei. 1970 etwa wäre die Wirtschaft viel widerstandsfähiger gewesen, wir hatten Vollbeschäftigung, keine prekären Jobs.

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Unmittelbar nach Ausbruch der Coronakrise hatten die Aktienkurse den stärksten Einbruch der Geschichte. Das ist jetzt fast komplett verdrängt, weil die Kurse danach wieder extrem gestiegen sind. Aber das ging nur aufgrund einer Art von Manipulation durch die Notenbanken. Die US-Notenbank hat der Finanzindustrie versprochen, sie nicht hängen zu lassen. Außerdem haben einige Notenbanken, Japan, Norwegen oder die Schweiz, Aktien aufgekauft. Die Aktien legten also ein Feuerwerk der Sonderklasse hin, während wir durch eine beispiellose Krise gingen.

Anders als 2009 haben die Notenbanken die Logik des Finanzkapitalismus verstanden. So haben sie die wirtschaftliche Kernschmelze verhindert. Insofern war das schon großartig, diesen radikalen Turnaround herbeizuführen. Aber das hat einen Preis.

Welchen?
Die Aussagekraft von Aktienpreisen ist dahin: Sie spiegeln nichts mehr über die Realwirtschaft wider.

Der Markt ist also ausgehebelt?
Ja, die Märkte werden manipuliert. Das ist nicht neu, aber es hat eine neue Dimension, die der Krise angemessen ist. Noch 2008 glaubten die Notenbanken zu sehr an den Markt, um so zu manipulieren. Jetzt sind sie zynischer, aber dabei auch realistischer. Und so haben sie das System, vorerst, stabilisiert.

Kommt noch ein Crash mit Aufschub?
Das glaube ich nicht mehr. Die Notenbanken werden das immer verhindern können. Sie haben unbeschränkte Macht, Geld zu drucken. Die Frage wird aber sein, wie es weitergeht, wenn Staaten wie Deutschland nach der Krise über die Schwarze Null nachdenken. Wie soll Deutschland von diesem Defizit runterkommen? Die Eurokrise wird sich aber nicht wiederholen. Meine These: Auch Deutschland glaubt nicht mehr an den Sinn einer Sparpolitik.

Jetzt gibt es ja auch Gemeinschaftsanleihen in der EU.
Ja, in die Richtung könnte es gehen. Ich vermute, letztlich wird die Notenbank die Staaten finanzieren.

Gibt es dann nicht eine Inflation?
Nein. Das passiert dann, wenn die Produktionskapazitäten nicht vorhanden sind wie nach dem Ersten Weltkrieg. Wir sind genau in der umgekehrten Situation: riesige Produktionskapazitäten, aber keine Nachfrage.

Können wir jetzt den Kapitalismus umbauen?
Ja, der Staat kann jetzt entscheiden Geld in Nachhaltigkeit zu investieren. Die öffentliche Nachfrage muss die Führung übernehmen, so funktionierte es früher mit Rüstungspolitik oder mit Roosevelts New Deal. Es darf aber nicht im Rahmen der Nationalstaaten sein – wegen der Fiskalregeln. Für die EU gibt es die nicht. Der entscheidende Durchbruch beim Corona-Gipfel war, dass die EU selbst Kredite aufnehmen darf.

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