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2011 ist Mario Draghi Chef der EZB geworden, nun scheidet er aus dem Amt.

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Mario Draghi: Ein großer Europäer

Der scheidende EZB-Chef Mario Draghi darf nicht zum Sündenbock gemacht werden. Es ist Zeit, um Respekt für seine Leistungen zu zollen. Ein Gastbeitrag

Als der Chefredakteur der „Bild“-Zeitung, Kai Diekmann, im März 2012 Mario Draghi eine preußische Pickelhaube schenkte, war die Hoffnung groß, wir Deutschen könnten dem damals neuen EZB-Präsidenten vermeintlich deutsche Tugenden verleihen und ihn damit vereinnahmen. Weniger als acht Jahre später tituliert die „Bild“-Zeitung ihn als „Graf Draghila“, der unseren Banken schadet und die Sparer enteignet – ein Tiefpunkt in den Beziehungen zwischen Deutschland und der EZB. Es ist höchste Zeit, dass wir Deutschen die EZB nicht länger zum Sündenbock für die eigenen Fehler machen und Mario Draghi für seine Leistungen Respekt zollen.

Die Zahlen und Fakten sprechen eine eindeutige Sprache: Als Mario Draghi Ende 2011 EZB-Präsident wurde, stand Europa kurz vor der wirtschaftlichen und damit auch sozialen und politischen Katastrophe. Es gab im Euroraum über 20 Millionen Arbeitslose, die Wirtschaftsleistung war eingebrochen, die Wettbewerbsfähigkeit hatte stark gelitten, viele Banken (auch in Deutschland) standen vor der Insolvenz und die Finanzmärkte versuchten mit ihren spekulativen Attacken, Länder wie Griechenland aus dem Euro zu treiben. Viele verkennen heute, wie brenzlig die Lage damals war: Der Euroraum stand kurz vor dem Auseinanderbrechen.

Marcel Fratzscher ist Präsident des DIW in Berlin.
Marcel Fratzscher ist Präsident des DIW in Berlin.

© dpa

Acht Jahre später sind diese Gefahren zumeist gebannt, die Wirtschaft des Euroraums hat sich teilweise erholt, elf Millionen neue Jobs wurden geschaffen, das Finanzsystem stabilisiert und Finanzakteure wagen es nicht mehr, die Handlungsfähigkeit der EZB infrage zu stellen. Die EZB unter Mario Draghi ist viele neue Wege gegangen, um die Eurozone zu stabilisieren. Mario Draghis berühmte Ankündigung im Juli 2012, er werde tun „whatever it takes“, um den Euro zu retten, beendete die Spekulation gegen den Euro. Seine Entschlossenheit sowie neue Instrumente der Kreditvergabe und die Umsetzung der Bankenaufsicht als Teil der europäischen Bankenunion sind seine drei wichtigsten Erfolge der EZB.

Deutschland verdankt den Wirtschaftsboom auch Draghi

Die wirtschaftliche Erholung des Euroraums – so fragil sie auch sein mag – ist nicht trotz, sondern vor allem wegen des entschiedenen Handelns der EZB möglich gewesen. Es bedarf schon einer gehörigen Portion Ignoranz zu behaupten, Deutschlands Wirtschaftsboom der letzten acht Jahre wäre ohne die expansive EZB-Geldpolitik, die niedrigen Zinsen und die verbesserte Stabilität möglich gewesen. Gerade Deutschland hat mit seinem Wirtschaftsmodell und seiner Exportabhängigkeit von der wirtschaftlichen Wiederbelebung des Euroraums durch die EZB profitiert.

Dies bedeutet nicht, dass die EZB unter Mario Draghi keine Fehler begangen hat. Der vielleicht schwerwiegendste ist das Scheitern seiner Kommunikation. Es ist ihm nicht gelungen, die Geldpolitik der breiten Öffentlichkeit in Deutschland zu vermitteln und zu erklären, dass die Menschen, auch wenn die niedrigen Zinsen schmerzlich für die kleinen Sparer sein mögen, gleichzeitig als Arbeitnehmer, als Steuerzahler und als Europäer davon profitieren. Auch die geldpolitischen Entscheidungen waren nicht ohne Makel.

Das Anleihenkaufprogramm 2015 hätte wohl früher umgesetzt werden sollen, was zu einer früheren Erholung beigetragen hätte und vielleicht heute eine einsetzende Normalisierung der Zinsen ermöglicht hätte. Das neue geldpolitische Programm vom September 2019 dagegen kommt vielleicht zu früh und hätte – zumindest in seiner expansiven Ausgestaltung – zu diesem Zeitpunkt vermieden werden können. Beide Kritikpunkte sind jedoch auf ihre Validität hin nicht überprüfbar, da wir nie wissen werden, wie sich die Alternativen ausgewirkt hätten. Die Handelskonflikte, der Brexit, die Konflikte im Nahen Osten und eine drohende US-Rezession: Viele Faktoren könnten die Wirtschaft des Euroraums und Deutschlands in den nächsten ein bis zwei Jahren in eine Rezession treiben, wodurch sich diese geldpolitische Lockerung noch als notwendig erweisen könnte.

Wir brauchen eine sachlichere Debatte über den Euro

Wir müssen in Deutschland dringend zu einer sachlichen und weniger emotional geführten Debatte über den Euro und die EZB-Geldpolitik zurückkehren und uns einiger Illusionen entledigen. Denn ansonsten wird die neue EZB-Präsidentin Christine Lagarde und damit die Glaubwürdigkeit der EZB ein ähnliches Schicksal hierzulande erleiden wie Mario Draghi. Zum einen sollten wir verstehen, dass die EZB keine moralische Autorität ist, sondern eine technokratische Institution mit dem Mandat der Preisstabilität. Es ist weder die Aufgabe der EZB, noch hat sie das Recht dazu, Regierungen zu einem bestimmten Handeln zu zwingen, Banken zu retten oder Sparern Zinserträge zu garantieren. All dies sind politische Aufgaben, für die ausschließlich die Politik verantwortlich ist.

Zum anderen sollten wir verstehen, dass die Geldpolitik nicht vom EZB-Präsidenten alleine, sondern von 25, meist nationalen Zentralbankgouverneuren bestimmt wird. Fakt ist, dass in den vergangenen acht Jahren die meisten Entscheidungen von einer großen Mehrheit dieser 25 Experten getroffen und getragen wurden. Wenn man die EZB-Entscheidungen kritisieren will, dann muss man alle 25 Verantwortlichen in die Pflicht nehmen, nicht nur eine Person.

Große Leistungen verdienstvoller Europäerinnen und Europäer werden häufig erst mit zeitlicher und emotionaler Distanz erkannt – das gilt sowohl für die Leistungen Helmut Kohls für die deutsche Wiedervereinigung als auch für Jacques Delors’ Leistungen für die europäische Wirtschaftsunion, und beider für den Euro. Mario Draghi ist ein großer Europäer, dessen Beitrag für Frieden, Wohlstand und Stabilität Europas in einem Atemzug mit denen von Helmut Kohl, Jacques Delors und Robert Schumann zu nennen ist. Mario Draghi hat mit seinen Entscheidungen nicht nur eine wirtschaftliche Depression verhindert, sondern den Euro unumkehrbar gemacht und damit das Fundament für ein friedliches und wohlhabendes Europa der Zukunft gelegt. Es ist Zeit für uns Deutsche, ihm dafür den gebührenden Respekt zu zollen.

Marcel Fratzscher

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