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Das neue Taktische Luftverteidigungssystem (TLVS) soll Berichten zufolge rund acht Milliarden Euro kosten.

© bernhardhuber.com

Mahnung aus der Rüstungsindustrie: „Deutschland ist dabei, seine Rolle als verlässlicher Partner zu verspielen“

Thomas Gottschild, Geschäftsführer des Rüstungskonzerns MBDA Deutschland, im Interview über Abwehrsysteme, Rüstungsexporte und die neue Verteidigungsministerin.

Herr Gottschild, eigentlich ist schon seit 2015 klar, dass MBDA das neue Raketenabwehrsystem der Bundeswehr stellen soll - eines der größten Anschaffungsprojekte der vergangenen Jahre. Warum haben Sie erst vor ein paar Wochen das Angebot dafür abgegeben?

Die Entscheidung für unser Taktisches Luftverteidigungssystem (TLVS) fiel in der Tat schon 2015. Wir haben die Angebotsaufforderung im Februar 2016 erhalten und im Herbst desselben Jahres unser erstes Angebot abgegeben. In den vergangenen Jahren sind allerdings einige neue Bedrohungen sichtbar geworden, aus denen sich neue Anforderungen in den Verhandlungen mit dem Verteidigungsministerium ergeben haben. Entsprechend haben wir im Juni 2019 ein neues Angebot abgegeben.

Welche Bedrohungen kamen denn hinzu?

Ich erinnere hier etwa an die Rede von Wladimir Putin im März 2018. Er hat Waffensysteme vorgestellt, die herkömmliche Abwehrsysteme nicht abfangen können. Deshalb haben wir hier nachgerüstet und TLVS auch für diese Bedrohung ausgelegt.

Bisher setzt Deutschland auf das Verteidigungssystem Patriot Ihres US-Konkurrenten Raytheon. Was kann TLVS besser als Patriot?

TLVS leistet einen Schutz gegenüber neuartigen Bedrohungen, wie etwa die neuen russischen Waffen. Zudem ist es ein Kind des digitalen Zeitalters. Die Bestandssysteme hingegen sind größtenteils noch aus den 1960er Jahren und weisen eine sehr geschlossene  Systemarchitektur auf. TLVS jedoch ist offen; das heißt, kleinere Partner-Nationen können mit eingebunden werden. Sie können entweder mit ihrem Bestandssystem dort andocken oder TLVS-Segmente kaufen.

Allerdings stünde Deutschland mit TLVS ziemlich isoliert da. Polen, Schweden, die Niederlande und Rumänien haben sich gerade erst Patriot angeschafft. Ist das kein Nachteil für die Bundeswehr?

Nein. Diese Länder sind gerade erst dabei, die Verteidigungsstufe, die Deutschland schon hat, zu erreichen. Da ist Patriot nun mal das verfügbare System. TLVS ist die nächste Entwicklungsstufe und wird mittelfristig auch für diese Länder interessant sein.

Kann man auch ein Patriot-System anschließen?

Ja, man kann auch ein Patriot-System über TLVS führen.

Ein weiterer Kritikpunkt an TLVS lautet, man könne damit nur einzelne Ziele schützen. Territoriale Abwehr sei nicht möglich. Stimmt das?

TLVS bietet die Möglichkeit, Ballungszentren und damit den absoluten Großteil der deutschen Bevölkerung zu schützen. Der Schutzbereich ist acht Mal größer als bei bestehenden Systemen.

Schon vor der Angebotsabgabe standen die Kosten für TLVS in der Kritik, der Bundesrechnungshof prüft das Verfahren bereits. Ist es korrekt, dass das Projekt erst vier Milliarden Euro kosten sollte und jetzt rund acht Milliarden kosten wird?

Die Kosten stehen am Ende der Gespräche mit dem Kunden zu unserem Angebot fest, deshalb kann ich heute nichts dazu sagen. Ein wichtiger Aspekt ist aber, dass TLVS seinen Schutz mit wesentlich geringerer Personalstärke bieten kann als Bestandssysteme. Das spart Kosten.

Sind in Ihrem Angebot Maßnahmen zur Kosten-Deckelung vereinbart oder eine Obergrenze?

Das Angebot umfasst einen bestimmten Leistungsumfang und natürlich auch eine Leistungsverpflichtung unsererseits. Von daher ist der Rahmen klar gesetzt.

Thomas Gottschild, seit 2016 Geschäftsführer von MBDA Deutschland, fordert von der Bundesregierung mehr Verlässlichkeit bei Rüstungsexporten.
Thomas Gottschild, seit 2016 Geschäftsführer von MBDA Deutschland, fordert von der Bundesregierung mehr Verlässlichkeit bei Rüstungsexporten.

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Raytheon wirbt damit, dass ein neues Patriot-System die Hälfte von TLVS kosten würde.

Nur uns, unserem Partner Lockheed Martin und dem Kunden, also dem Bundesverteidigungsministerium, ist die Kostenlage und die konkrete Anforderungslage bekannt. Zu den Preisen ist niemals Stellung genommen worden. Deswegen ist es verwunderlich zu sehen, wenn unser Wettbewerber behauptet, zu wesentlich günstigeren Konditionen die gleiche Leistungsfähigkeit bieten kann, obwohl ihm beides gar nicht bekannt ist. Zudem muss man wissen, dass Patriot „Next Generation“ noch gar nicht existiert. Kein Kunde hat das bestellt, es wird nicht entwickelt und es plant auch niemand, das zu entwickeln.

Würde TLVS in Deutschland Arbeitsplätze schaffen?

Ja. In seiner gesamten Wertschöpfung werden rund 6000 Mitarbeiter von TLVS profitieren. In unserem Werk in Schrobenhausen würden bei diesem Projekt noch einmal 200 bis 300 Jobs neu dazukommen.

Vor einer Woche hat Russland seine Waffenlieferungen an das Nato-Land Türkei gestartet, im Februar haben die USA den INF-Vertrag gekündigt, weil Russland mit neuen Mittelstreckenraketen dagegen verstoßen haben soll, die auch Deutschland erreichen könnten. Was bedeutet das für die Nato?

Das Auslaufen des INF-Vertrages ist einer der Gründe, warum Deutschland in ein neues Schutzsystem wie TLVS investieren muss. Ich erwarte, dass der Westen durch die neuen Bedrohungslagen näher zusammenrückt. Lockheed Martin und MBDA sind als langjährige Kooperationspartner ein Beispiel dafür. Aber die Entwicklung der Nato muss komplementär zur militärischen Entwicklung in Europa geschehen. Wir brauchen hier eine militärische Eigenständigkeit, die wiederum die Nato stärkt.

Wie finden Sie das Pochen Trumps darauf, zwei Prozent des Haushalts für Verteidigung auszugeben?

Ich finde das absolut notwendig, gerade wenn wir sehen, in welchem Zustand die Bundeswehr sich befindet.

Wie bewerten Sie denn die Arbeit von Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen und was erwarten Sie von Annegret Kramp-Karrenbauer als ihre Nachfolgerin?

Zunächst einmal gratuliere ich Annegret Kramp-Karrenbauer herzlich und wünsche ihr eine glückliche Hand bei ihrer neuen Aufgabe, Schutz und Sicherheit für unser Land zu schaffen. Der eingeschlagene Weg mit der Agenda Rüstung, mit mehr Transparenz, mit den Bemühungen zu einer besseren Kostenkontrolle zu kommen, ist richtig. Was wir jetzt benötigen, ist die Umsetzung dessen. Und den Einstieg in große Rüstungsprogramme, die ja vielfach schon auf den Weg gebracht wurden. Für die Ausrüstung der Bundeswehr und damit für die Rüstungsindustrie ist zuverlässige Planbarkeit unverzichtbar, sowohl in der eigenen Verwaltung als auch bei europäischen Rüstungskooperationen.

Die neue und die alte Verteidigungsministerin: Ursula von der Leyen (l.) und Annegret Kramp-Karrenbauer (beide CDU).
Die neue und die alte Verteidigungsministerin: Ursula von der Leyen (l.) und Annegret Kramp-Karrenbauer (beide CDU).

© dpa

Eigentlich müssten Sie doch zufrieden sein. Im der ersten Jahreshälfte sind die Rüstungsexporte erstmals seit drei Jahren wieder gestiegen.

Für uns ist das Thema Rüstungsexporte eng mit Kooperationen gekoppelt. Und da gibt es aus Sicht der deutschen Industrie große Probleme. Große Rüstungsprojekte haben heute Dimensionen, die keine europäische Nation allein bewältigen kann. Und Deutschland ist gerade dabei, in dieser wichtigen Funktion seine Rolle als verlässlicher Partner zu verspielen.

Weshalb?

Ich möchte das gar nicht an einem konkreten Thema fest machen. Wir haben teilweise Programme, bei denen geht es nur um einen kleinen Teil des Gesamtwerts, der aus Deutschland zugeliefert wird. Hier kam es in der Vergangenheit mitunter vor, dass aufgrund unterschiedlicher Bewertung politischer Fragen zwischen den Partnerregierungen Lizenzen entzogen wurden, die bei Auftragsvergabe vorlagen. Aber auch in diesen Programmen müssen wir zuverlässig liefern, um als verlässlicher Kooperationspartner wahrgenommen zu werden.

Was schlagen Sie vor?

Die Bundesregierung muss dafür sorgen, dass zu Beginn eines Projektes Planbarkeit hergestellt wird, die in einen Vertrauensschutz mündet. Das erwarten industrielle Partner in anderen Nationen zurecht von uns. Es muss sichergestellt sein, dass wir auch die Möglichkeit haben, zu liefern, wenn wir in einem Vertrag sind. Denn sonst werden die Teile anderswo produziert und deutsche Unternehmen werden in internationale Rüstungskooperationen irgendwann einfach nicht mehr einbezogen.

Oder Sie entwickeln Innovationen, die niemand sonst herstellen kann. An welchen Zukunftstechnologien forscht MBDA gerade?

Wir bereiten uns zum Beispiel bei der Laser-Technologie gerade darauf vor, ein neues System auf einem Schiff zu testen. Laser haben den Vorteil, dass sie sehr schnell Energie ins Ziel bringen können, sehr agil sind und Kollateralschäden aufgrund ihrer hohen Präzision reduzieren. Der Laserstrahl kann selbst auf einem schwankenden Schiff über Kilometer hinweg präzise wirken.

In welchen Ausschreibungen befindet sich MBDA derzeit abgesehen von TLVS?

Wir sind beispielsweise in einem Wettbewerb für eine neue schultergestützte Waffe der Bundeswehr. Der Enforcer ist ein Kleinflugkörper und ein neues Produkt für MBDA.

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