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Lieber Büro als Werkstatt: Die Kinder sollen es einmal besser haben

Viele Jugendliche wollen Fotograf werden oder Mediengestalter - aber keinen körperlichen Job lernen. Wie Arbeitsmarktexperten gegen den Trendangehen.

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Georg will Mathematiker werden, wie sein Vater, der in der Pharmabranche Daten am Bildschirm kontrolliert. Gerüstbauer findet er auch cool. Er weiß es noch nicht, sagt der 14-Jährige. Lea ist 13 und will im Büro arbeiten, gut verdienen und viel Freizeit haben. Ihr Vater ist Informatiker, auch sie könnte sich vorstellen, mal das Gleiche zu machen wie er. Kian weiß nur, dass er nicht wie sein Vater Polizist werden will. Seine Mutter arbeitet als Kosmetikerin.

Die drei gehen in die 8. Klasse einer Integrierten Sekundarschule in Köpenick. In der neunten Klasse steht das zweiwöchige Schülerpraktikum an. Keine Ahnung wohin es sie führen wird, sagen sie. Viele Türen stehen ihnen offen. Entscheiden sie sich für eine duale Ausbildung, haben sie in Deutschland die Wahl zwischen mehr als 320 Berufen.

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Die Chancen eine Stelle zu finden, sind gut wie nie: Der Fachkräftemangel ist eklatant, mehr als 1,7 Millionen Arbeitsstellen sind laut Deutscher Industrie- und Handelskammertag (DIHK) unbesetzt – und auch auf dem Ausbildungsmarkt ist das Angebot größer als die Nachfrage. Fast 40 Prozent aller Stellen bleiben bundesweit unbesetzt, hat eine Studie des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) ergeben. Begonnen hat der Trend bereits 2013, seit dem ist die Zahl der unbesetzten Ausbildungsstellen kontinuierlich gestiegen.

Das Angebot steigt leicht, das löst aber nicht das Problem

Das Thema ist komplex, seit Jahren stehen Arbeitgeber in der Kritik, weil sie immer weniger Ausbildungsplätze bereitstellen. Im vergangenen Ausbildungsjahr wurden bis zum 30. September 473 100 neue Ausbildungsverträge abgeschlossen. Das sind zwar 5600 mehr als im ersten Pandemiejahr 2020 – aber 52 000 weniger als 2019, hat das Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) ausgerechnet.

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Schöner arbeiten. Ausbildungsplätze für angehende Fotografen sind schnell vergeben.
Schöner arbeiten. Ausbildungsplätze für angehende Fotografen sind schnell vergeben.

© Imago

Dass das Angebot jetzt wieder leicht steigt, kann das Problem aber kaum lösen: Immer weniger Schulabsolventen wollen eine Berufsausbildung machen. Im Herbst 2021 sank die Nachfrage auf den tiefsten Stand seit 1992 und die Zahl ging laut BIBB noch einmal um weitere 4800 auf 540 900 zurück. Die Gründe dafür sind vielfältig. Entsprechend gibt es keine einfache Lösung.

Viele junge Menschen wollen lieber studieren. „Mismatching“ ist ein anderer Grund. Der Begriff steht dafür, dass Jobs und Bewerber nicht zusammenpassen – oder nicht zusammenfinden. Viele Jugendliche möchten nicht Back- oder Fleischverkäufer, Klempner, Betonbauer oder Fachkraft in der Gastronomie werden, sondern lieber Fotograf oder Mediengestalterin. Dazu kommt: Manche Arbeitgeber haben Anforderungen, die nicht immer der Bewerberlage entsprechen.

Dass sich sogar der Bundeskanzler jetzt um das Thema kümmert, dürfte an den drei Schülern aus Köpenick vorbeigegangen sein. Verbände, Ministerien, Gewerkschaften und Arbeitgeber haben im vergangenen Jahr eine Allianz für Aus- und Weiterbildung geschmiedet und versuchen über Informationsveranstaltungen junge Menschen für eine duale Ausbildung zu gewinnen. Scholz hat dazu auf der Allianz-Webseite geworben.

In der vergangenen Woche hat die Lehrerin Johanna Groll ihre Köpenicker Klasse zum Berliner Talente-Check in die Arbeitsagentur Nord in Charlottenburg geschickt. „Weil sie bisher keine Ahnung haben, was sie können“, sagt sie und wünscht sich, dass die Jugendlichen den Check mit mehr Selbstbewusstsein verlassen. Vor allem aber geht es bei dem Termin um Berufsorientierung, denn die gilt inzwischen als eine der großen Stellschrauben, um den dramatischen Trend wieder zu drehen.

Seit September gibt es das von der Arbeitsagentur mit der Industrie- und Handelskammer Berlin, dem Handwerk und dem Berliner Senat auf den Weg gebrachte Projekt, sagt Projektleiterin Christina Brandenburg. 2500 Schüler seien seit der Eröffnung durch die mit viel Aufwand zu „Showräumen“ umgestalteten ehemaligen Arbeitsagenturbüros geschritten, durch die gelben Flure, Räume mit glitzernden oder verspiegelten Wänden und dem schallschluckenden Teppichen auf dem Boden. Zweieinhalb Stunden haben sie sich vor einen Bildschirm gesetzt und Fragen des wissenschaftlich fundierten Berufswahltest der Arbeitsagentur zu ihren Kenntnissen in Deutsch und Mathematik und ihren Vorlieben ausgefüllt.

Wir brauchen Azubis - Wer sonst soll Windkraftanlagen installieren?

In einem Raum ohne Fenster, der an ein Mitmachmuseum erinnert, haben sie getestet, wie gut ihr Merkvermögen ist, haben Gesichter Gefühlen zugeordnet, mehr oder weniger motorisch geschickt mit einem Stab einen Ring über eine geschlängelte Stange geführt und mit Programmierbefehlen einen Affen auf einem Bildschirm auf eine Banane zubewegt.

Einer der Arbeitsmarktexperten, die nach Lösungen für das gesellschaftlich so dringende Azubi-Problem suchen, ist der Leiter des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB), Friedrich Esser. „Wir brauchen Azubis, wer sonst soll in Zukunft unsere Windkraftanlagen installieren und die Solarzellen aufs Dach bringen“, sagt er bei einer Veranstaltung der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit (OECD). Die berufliche Ausbildung müsse attraktiver und ihre Chancen bekannter werden. Auch im Handwerk könne man Karriere machen und gut verdienen. „Ein Meisterabschluss ist einem Bachelorabschluss gleichzusetzen“, sagt Esser.

[Lesen Sie auch: 5800 Stellen für Azubis, Praktikanten und Studierende: Bei welchen Dax-Konzernen Berufseinsteiger gesucht werden (T+)]

Das Problem sei jedoch gesellschaftlich tief verwurzelt. Von Generation zu Generation gebe es ein Aufstiegsversprechen. In Nordrhein-Westfalen etwa habe der Großvater oft im Bergbau gearbeitet, der Sohn in einem „Weiße-Kragen-Beruf“, zum Beispiel als Industriekaufmann, und das Enkelkind studiere jetzt BWL. Körperliche Arbeit liege nicht im Trend.

Dabei sei in den Familien noch nicht angekommen, wie modern und digital Ausbildungsberufe heute seien, von Installationsberufen bis zum Elektrohandwerk. Esser wirbt um nichts weniger als einen gesellschaftlichen Wandel, dafür, dass auch Gymnasiasten eine Ausbildung in Betracht ziehen. Dazu müsse man die Eltern und Lehrer mit in die Berufsinformation einbeziehen, denn auch viele von ihnen hätten noch nie einen Handwerksbetrieb von innen gesehen.

Körperliche Arbeit, nein danke. Die Lehrstellen für Betonbauer sind schwer zu besetzen.
Körperliche Arbeit, nein danke. Die Lehrstellen für Betonbauer sind schwer zu besetzen.

© imageBROKER/Jürgen Wiesler

In einem Raum des Talente-Checks stehen bunte Wände mit großen Bildschirmen. Die Jugendlichen setzen sich Kopfhörer auf und navigieren per Handbewegung durch verschiedene Arbeitswelten, die ihnen zum Beispiel zeigen, welche Ausbildungsberufe an der Herstellung eines Elektrorollers beteiligt sind. Fünfeinhalb Stunden dauert der gesamte Check. Die Auswertung erfolgt später, durch den Berufsberater der Arbeitsagentur in der jeweiligen Schule.

Viele Jugendliche sorgen sich um ihre berufliche Zukunft

„Ist ja noch hin, bis es so weit ist“, sagt Kian aus Köpenick. Laut einer Umfrage der Bertelsmann Stiftung sorgen sich viele junge Menschen um ihre Chancen auf dem Ausbildungsmarkt und wünschen sich mehr Unterstützung. Unter 1666 Befragten im Alter zwischen 14 und 20 Jahren sehen 54 Prozent ihre Chancen durch die Pandemie verschlechtert. Und unter den Jugendlichen mit niedriger Schulbildung hatte sogar fast jeder Zweite diesen Eindruck. Offenbar fehlt es noch immer an Information und Aufklärung.

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