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Rund 20 000 Stahlarbeiter haben sich nach Angaben der IG Metall an Warnstreiks beteiligt. An diesem Dienstag fällt die Entscheidung im Tarifkonflikt.

© dpa

Kräftigste Tariferhöhung seit Jahren: Teurer Stahl

Die Arbeitgeber haben der IG Metall eine Tariferhöhung um 4,7 Prozent angeboten – das reicht der Gewerkschaft aber nicht.

Heinz Jörg Fuhrmann hat Freund und Feind überrascht. Schon am vergangenen Freitag, in der vorletzten Verhandlungsrunde, legte der Verhandlungsführer der Arbeitgeber ein erstaunliches Angebot auf den Tisch: 4,7 Prozent bei einer Laufzeit des neuen Tarifvertrags von 21 Monate. So viel Geld hat es lange nicht mehr gegeben. Und dennoch: Der IG Metall reicht das nicht. Die Stahlindustrie ist ein Krisen- und Kriegsgewinner, weshalb die Gewerkschaft 8,2 Prozent fordert für eine Vertragsdauer von zwölf Monaten. Am heutigen Dienstag werden in Düsseldorf die Verhandlungen für die 84 000 Stahlarbeiter fortgesetzt und vermutlich abgeschlossen.

Konzerne mit Rekordgewinnen

Fuhrmann war mehr als zehn Jahre Vorstandsvorsitzender der Salzgitter AG; vor einem Jahr ging er in den Ruhestand, die Tarifverhandlungen führt Fuhrmann ehrenamtlich. Gute 3000 seiner ehemaligen Kollegen versammelten sich am Montag am Werksgelände in Salzgitter, um für die Tarifforderung zu werben. Dass ihr Unternehmen kürzlich eine Verdreifachung des Quartalsgewinns gemeldet und mit einer besonderen Gewinnwarnung überrascht hat, ist auch in der Belegschaft angekommen. Für das Gesamtjahr erwartet Salzgitter einen Bruttogewinn bis zu 900 Millionen Euro, 150 Millionen Euro mehr als bislang prognostiziert. Ursächlich dafür sind vor allem die Preise: Eine Tonne Grobblech kostet doppelt so viel wie vor ein paar Monaten. Das bedeutet aber auch: Die Stahlhersteller reichen die höhere Preise für Rohstoffe und Energie an ihre Kunden weiter.

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Hohe Inflation spielt eine Rolle

„Anders als die Beschäftigten können die Unternehmen die gestiegenen Kosten weiterreichen und damit in Profit umwandeln“, begründet Knut Giesler, der für die die IG Metall die Verhandlungen führt, die 8,2-Prozent-Forderung. „Das vorgelegte Angebot ist weder in der Höhe noch in der Laufzeit ausreichend. In der Höhe ist es zu gering, in der Laufzeit zu lang.“ Gieslers Tarifpartner Fuhrmann dagegen hat sich nur schweren Herzens von der Einmalzahlung in Höhe von 2100 Euro pro Kopf verabschiedet, mit der die Arbeitgeber in die Verhandlungen gegangen waren. Fuhrmann hielt das für ein „situationsangemessenes Instrument“, doch die IG Metall und ihre Mitglieder wollen unbedingt eine prozentuale Erhöhung, weshalb „wir uns zu diesem Angebot einer tabellenwirksamen Entgeltanhebung entschlossen haben“, wie Fuhrmann sagt. In Anbetracht der Risiken sowohl der Energieversorgung als auch der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung sei ihm das „alles andere als leichtgefallen“.

Zeiten so unsicher wie zur Kuba-Krise

Um die aktuelle Situation zu vergleichen, blickt Fuhrmann, Jahrgang 1956, weit zurück. Die Unsicherheit über die weitere konjunkturelle Entwicklung sei so groß wie zuletzt in der Kuba-Krise 1962. Eine schwierige Ausgangslage für Tarifverhandlungen: Die Firmen verdienen prächtig – aber wie lange noch?

Aus verschiedenen Gründen ist die Tarifauseinandersetzung im Stahl besonders. Die Inflationsrate ist so hoch wie seit Jahrzehnten nicht mehr; aufgrund der Kriegsfolgen für die Energiemärkte und die Lieferketten ist eine Stagflation, also das Aufeinandertreffen von Inflation und Rezession, nicht ausgeschlossen; nach zwei Pandemiejahren mit zurückhaltenden Tarifabschlüssen und Reallohneinbußen wollen die Beschäftigten Geld. Und schließlich strahlt die Stahlrunde aus auf die Metall- und Elektroindustrie mit knapp vier Millionen Beschäftigten, für die in einer Woche die IG Metall die Forderung präsentiert. Von den Tausenden Unternehmen aus dem Maschinen- und Fahrzeugbau sowie der Elektroindustrie verdienen nur wenige so gut wie die Stahlkonzerne, weshalb die Gewerkschaft vermutlich „nur“ um die 7,5 Prozent fordern wird.

Die Beschäftigten verlieren Kaufkraft

Immer noch viel zu viel, meinen die Arbeitgeber. „Es gibt große Unsicherheit und die Lage der Unternehmen ist extrem heterogen. In manchen Betrieben läuft es noch gut, in anderen – vor allem unter den Automobilzulieferern – dagegen sehr schlecht“, sagte Stefan Wolf, Präsident des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall der „Südwestpresse“. „Dort gibt es nichts zu verteilen.“ Woanders aber haben die Unternehmen hohe Gewinne erwirtschaftet – und Rekorddividenden an die Aktionäre ausgeschüttet, wie etwa in der Autoindustrie. Die Kaufkraft der Beschäftigten dagegen ist nach zwei Coronajahren schwächer als vor der Pandemie.

Tarifpolitik kann Geldpolitik nicht ersetzen

2021 stiegen die Tarifverdienste im Bundesdurchschnitt um 1,7 Prozent, die Verbraucherpreise aber um 3,1 Prozent. Real schrumpften also die Tarifentgelte um 1,4 Prozent. Das war 2021 – vor dem Krieg. Inzwischen haben die dramatisch gestiegenen Energiepreise die Inflationsrate auf fast acht Prozent geschoben. Das kann die Tarifpolitik nicht ausgleichen. Schon gar nicht die IG Metall, die als Berechnungsformel für ihre Tarifforderung für die Metallindustrie noch immer die Zielinflationsrate der Europäischen Zentralbank von zwei Prozent zugrundelegt zuzüglich gesamtwirtschaftlicher Produktivitätszuwachs plus eine Umverteilungskomponente. In der Summe sind das nicht mehr als fünf Prozent.

Kampagne der IG Metall

„Eine exorbitante Inflation kann man nicht durch die Tarifpolitik ausgleichen“, sagt Roman Zitzelsberger, IG-Metall- Chef von Baden-Württemberg, der im September die Tarifverhandlungen führt. Die größte und durchsetzungsstärkste Gewerkschaft ruft vielmehr nach der Politik: „Krisengewinne abschöpfen – Kosten deckeln!“ heißt es in einer aktuellen Medienkampagne, in der unter anderem die Senkung des Strom- und die Deckelung des Gaspreises gefordert werden. Damit teilt die IG Metall den eigenen Mitgliedern mit: Wir können die Energiepreise nicht mit Tariferhöhungen ausgleichen.

Urabstimmung wird vorbereitet

Erwartungsmanagement gehört zum Tarifpolitiker ebenso wie Streikbereitschaft und Kompromissfähigkeit. Die Stahlkonzerne geben die höheren Kosten durch Preisaufschläge an ihre Kunden weiter, heißt es bei der Gewerkschaft. „Die Stahlarbeiter und -arbeiterinnen können das nicht“, meint die ostdeutsche IG-Metall-Chefin Birgit Dietze. „Es geht jetzt auch darum, die Kaufkraft der Kolleginnen und Kollegen zu schützen und zu stärken und zwar monatlich.“ Kaufkraft stärken bei einer Inflationsrate von acht Prozent? Das weckt Erwartungen, die nur enttäuscht werden können.

Für den Fall eines Scheiterns der Verhandlungen hat die IG Metall knapp 40 000 Briefe an ihre Mitglieder vorbereitet, die am Mittwoch in die Post gehen würden: Aufforderung zur Urabstimmung über einen Arbeitskampf. Den wollen Arbeitgeber und Gewerkschaft in diesen unsicheren Zeiten unbedingt vermeiden. Heinz Jörg Fuhrmann muss also noch ein paar Scheine drauflegen.

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