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Stabil und attraktiv. Berlin zieht nicht nur Touristen an. Auch britische Firmen denken an einen Umzug.

© picture alliance / dpa

Konkurrenz für London: Warum Berlin Gewinner des Brexit sein könnte

Viele Unternehmen mit Sitz in Großbritannien suchen nach dem Brexit-Votum einen neuen Standort – und liebäugeln mit der deutschen Hauptstadt.

Simon Morley will jetzt keine Zeit verlieren, in spätestens sechs Monaten will er weg aus London. Ab nach Berlin, wo er für sich und sein Start-up Cucumber Tony, eine Plattform für das Management von Internet-Verbindungen, die Zukunft sieht. „Ich will nicht in einem Land leben und arbeiten, das sich so separiert“, sagt der 35-Jährige am Telefon, im Hintergrund klappern Tastaturen, Morley teilt sich im angesagten Londoner Stadtteil Shoreditch ein Großraumbüro mit anderen Start-up-Unternehmern. „So schlecht wie nach dem Brexit-Votum war die Stimmung hier noch nie“, erzählt er.

Wie Morley und seine Kollegen sind viele Unternehmer in Großbritannien entsetzt über die Entscheidung der Briten, die Europäische Union verlassen zu wollen. Nicht nur Start-ups, sondern auch große Konzerne erwägen ihren Standort in England zu schließen. Auf der Suche nach einer neuen Heimat liebäugeln dabei viele Firmen und Mitarbeiter mit Berlin – auch, wenn sie davon ihre Chefs erst noch überzeugen müssen.

So hatte Deutsche-Bank-Chef John Cryan bereits im April angedeutet, dass seine Bank im Falle eines Brexits Arbeitsplätze nach Frankfurt verlegen könnte. Bis zu 8000 Mitarbeiter könnten davon betroffen sein. Doch auf Frankfurt haben offenbar die wenigsten von ihnen Lust, viele würden lieber nach Berlin gehen, heißt es aus Finanzkreisen. Offiziell gibt es von der Bank keinen Kommentar dazu. Ohnehin sei noch nicht entschieden, ob es überhaupt einen Umzug geben werde.

Berlin könnte Fintech-Hauptstadt werden

Berlin würde sich allerdings anbieten, nicht nur, weil die Deutsche Bank hier 1870 in der Französischen Straße ihren ersten Geschäftsraum eröffnete und ihre Risikoabteilung unterhält. Sondern auch, weil sich hier immer mehr sogenannte Fintechs ansiedeln, Start-ups aus dem Finanzbereich, die künftig die Bankenindustrie entscheidend prägen werden.

Galt London bisher als Fintech-Hauptstadt, könnte nun Berlin diese Rolle einnehmen. Taavet Hinrikus, Chef des rasant wachsenden Online-Geldtransfer-Service Transferwise, hatte sich schon vor der Entscheidung im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Reuters klar positioniert. Im Fall eines Brexit würden „andere Städte wie Berlin oder Paris als europäisches Drehkreuz dann attraktiver erscheinen als London“, sagte er.

Neben Transferwise kündigten sieben andere Fintechs gegenüber Reuters an, ihren Hauptsitz verlegen zu wollen. Auch Ramin Niroumandi, Chef des Finanztechnologie-Anbieters FinLeap mit Sitz in Berlin ist überzeugt, dass die deutsche Hauptstadt „auf einem guten Weg ist, die Nummer eins Europas für Fintechs zu werden“. Kein Wunder, sind die EU-Zahlungsrichtlinien für viele der Unternehmen doch essenziell fürs Geschäft.

Hinzu kommt eine Sorge, die neben Start-ups auch etablierte Unternehmen umtreibt: Eine striktere Einwanderungspolitik in Großbritannien könnte den Fachkräftemangel weiter verschärfen, wodurch die Löhne in die Höhe schießen. Berlin hingegen zieht ungebrochen Talente aus aller Welt an, gerade weil die Mieten hier bezahlbar sind und die Lebensqualität hoch ist. Bereits 2015 hat Berlin London als Start-up-Hauptstadt abgehängt und sammelte 2,1 Milliarden Euro Investorengelder ein, während nur 1,7 Milliarden Euro in die britische Hauptstadt flossen.

Michael Müller: Berlin ist ein "stabiler und attraktiver Standort"

Dieser Trend dürfte sich nun weiter fortsetzen, davon ist auch Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) überzeugt, der London-flüchtige Unternehmen mit offenen Armen empfangen will. „Es kann durchaus sein, dass Berlin Gewinner des Brexit ist“, sagte er dem Tagesspiegel.

„Ich sage das allerdings ohne Häme oder Schadenfreude“, betonte er. Denn für die europäische Wertegemeinschaft sei der Brexit „eine schlimme Entwicklung“, auch mit Blick auf Großbritannien als Berlins siebtwichtigster Handelspartner mit 550 Millionen Euro Exportvolumen sei das Ausscheiden aus der EU zu bedauern. „Dennoch kann der Brexit dazu führen, dass wir durch Ansiedelung oder neue Investitionsentscheidungen als stabiler und attraktiver Standort profitieren.“ Zumal Berlin als Konkurrenz zu London „nicht wie Kai aus der Kiste kommt.“ Bereits 1000 britische Firmen hätten eine Zweigstelle an der Spree, bereits vor dem Referendum hätten zahlreiche den Hauptsitz nach Berlin verlegt. Nun sollen es noch mehr werden.

„Unternehmen wollen bei ihren Investitionsentscheidungen klare Planungssicherheit und die gibt es selbst bei einem mittelfristigen Ausscheiden Großbritanniens aus der EU derzeit nicht“, erklärte Müller. „Deutschland insgesamt ist dagegen wirtschaftlich stabil und speziell Berlin ist besonders attraktiv durch das gute wirtschaftliche und wissenschaftliche Umfeld, durch die Bezahlbarkeit und durch die freien Räume, die wir bieten.“ Besteht nicht aber die Gefahr, dass all die neu hergezogenen Unternehmen schnell wieder flüchten, sobald sie die chaotische Berliner Verwaltung kennenlernen? „Das ist die falsche Frage“, sagt Müller, „solche unternehmerischen Entscheidungen werden schließlich nicht kurzfristig gedacht, sondern sind langfristige Planungen, die über zehn bis 15 Jahre getroffen werden“.

Wirtschaftssenatorin Yzer schreibt an britische Firmen

Berlins Wirtschaftssenatorin Cornelia Yzer (CDU) hat bereits am Tag nach der Brexit-Entscheidung erste Schreiben an britische Unternehmen verschickt, in denen sie um Berlin als neuen Standort wirbt. Einige hundert solcher Briefe wolle sie in den kommenden Wochen verschicken, angesprochen werden sollen drei Zielgruppen: „Multinationale Konzerne, die Start-up-Szene und junge Talente“, sagte sie dem Tagesspiegel. „Berlin liegt als Alternative zu London auf der Hand“, betonte Yzer, „wir sind eine internationale Stadt, man spricht Englisch und wir sind bereits die Start-up-Metropole Nummer eins in Europa.“

Um das Rennen gegen andere Konkurrenten wie Dublin, Paris, Stockholm oder Luxemburg zu gewinnen, wird auch die Wirtschaftsförderung Berlin Partner aktiv. Ab Montag stellt sie eine Website online, die sich gezielt an britische Unternehmen richtet und die über wichtige Fragen aufklärt, beispielsweise darüber, was eine GmbH ist.

Berlin-Partner-Chef Stefan Franzke hält einen „fluchtartigen Umzug der Start-up-Szene aus London“ zwar für „unrealistisch“, aber mittelfristig werde es „viele junge Gründer nach Berlin ziehen“. Fünf Anfragen aus der Fintech-Branche lägen ihm bereits vor. „Die Start-up-Metropole Berlin wird definitiv vom Brexit profitieren“, ist Franzke überzeugt.

Simon Morley muss mit seinem Start-up Cucumber Tony nicht mehr umworben werden, seine Entscheidung für Berlin ist bereits gefallen. Seine vier Mitarbeiter muss er zwar noch überzeugen, „aber das dürfte nicht schwer werden, schließlich spricht alles für Berlin.“

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