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Der Kampf um den Diesel tobt längts nicht mehr nur auf der Straße.

© Marijan Murat/dpa

Update

Klagewelle gegen Autobauer: Was VW-Kunden jetzt wissen müssen

Anwälte raten Kunden im Dieselskandal selbst zu klagen. Auch VW sagt: Die Musterklage bringt nichts. Stimmt das? Die Zeit, sich zu entscheiden, drängt.

Christopher Rother ist ein erfahrener Anwalt. Er war Managing Partner der US-Kanzlei Hausfeld, die zusammen mit dem Rechtsdienstleister Myright Zehntausende VW-Kunden im Dieselstreit vertritt. Jetzt hat Rother ein neues Aufgabengebiet: Er führt keine Prozesse mehr, er finanziert sie. Der Jurist ist Geschäftsführer des jungen, deutschen Prozessfinanzierers Profin. Und der will derzeit vor allem mit einem Geld verdienen: Klagen gegen VW.

Seit Monaten besuchen Rother und sein Team Anwälte in der ganzen Republik, um sie und ihre Mandanten zu werben. Ihr Versprechen: Wer heute klagt, hat in spätestens zwölf Monaten sein Geld zurück.

Im Blick hat Rother vor allem die 430.000 Menschen, die sich der Musterfeststellungsklage (MFK) des Bundesverbands der Verbraucherzentralen angeschlossen haben.

Die Verbraucherschützer wollen gerichtlich feststellen lassen, dass VW seine Kunden mit dem Einbau der Manipulationssoftware in den Diesel-Motor EA189 vorsätzlich sittenwidrig geschädigt hat und dass den Verbrauchern dadurch ein Schaden entstanden ist.

Die Anklageschriften gegen VW füllen reihenweise Aktenordner.
Die Anklageschriften gegen VW füllen reihenweise Aktenordner.

© imago images / photothek

Ihren Hauptantrag – das Gericht soll auch gleich feststellen, dass die Kunden einen Schadensersatzanspruch haben –, haben die Richter am zuständigen Oberlandesgericht Braunschweig schon vor Prozessbeginn abgebügelt. Die MFK, so teilten sie vorab mit, diene dazu, Tatsachen festzustellen, keine Rechtsansprüche.

Bis Ende September müssen Dieselfahrer sich entscheiden

Am 30. September findet die erste Verhandlung zur Musterfeststellungsklage statt. Das Datum ist wichtig: Wer will, kann sich noch bis zum 29. September an der Klage beteiligen. Da das ein Sonntag ist, wäre es besser, sich bis zum Freitag angemeldet zu haben, sagen Verbraucherschützer. Dazu muss man sich in das Klageregister beim Bundesjustizamt eintragen. Aber auch für diejenigen, die sich bereits angemeldet haben, jetzt aber lieber auf eigene Faust klagen wollen, drängt die Zeit. Sie können noch bis zum 30. September austreten. Danach geht das nicht mehr.

Je näher der Termin rückt, desto intensiver rühren Anwälte und Prozessfinanzierer die Werbetrommel dafür, selbst zu klagen. Zu ihnen gehört der Berliner Rechtsanwalt Timo Gansel, dessen Kanzlei rund 20.000 Kunden verschiedener Autohersteller vertritt. Die MFK ist ein „Milliardengrab für Ansprüche“, sagt er. „Die Frustration der Leute wird groß sein“, warnt auch Prozessfinanzierer Rother.

Christopher Rother (Mitte) 2017 als er noch für die US-Kanzlei Hausfeld die Betroffenen im Dieselskandal vertrat.
Christopher Rother (Mitte) 2017 als er noch für die US-Kanzlei Hausfeld die Betroffenen im Dieselskandal vertrat.

© dpa

Ihre Argumente: Die Musterklage könnte sich über Jahre hinziehen. Erst ist das Oberlandesgericht am Zug, dann der Bundesgerichtshof, und dann geht die Sache vielleicht noch mal nach Braunschweig zurück.

Da das Musterverfahren nur dazu dient, grundsätzliche Fragen zu klären, muss anschließend noch jeder Betroffene seinen individuellen Schaden selbst einklagen. Insgesamt könne das zehn Jahre dauern, warnt Gansel und sagt: „Die Kunden müssen damit rechnen, dass am Ende des Verfahrens nur ein leerer Geldbeutel bleibt.“ Selbst, wenn man gewinnt.

VW-Dieselbesitzer können zwar verlangen, dass sie den Kaufpreis zurückbekommen plus Zinsen, für die gefahrenen Kilometer müssen sie jedoch eine Nutzungsentschädigung zahlen, die den Anspruch auffressen könnte. Jedes Jahr, in dem man länger prozessiert, erhöht die Zahl der gefahrenen Kilometer und reduziert den Schadensersatz. „Nach vier Jahren Prozessdauer ist der Schadensersatz aufgezehrt“, kritisiert Rother.

VW: Kein rechtskräftiges Urteil vor dem Jahr 2023

In diesem Punkt sind sich VW, Prozessfinanzierer und einige der Klägeranwälte bemerkenswert einig. Die meisten Gerichte würden eine Nutzungsentschädigung abziehen, sagen die Prozessanwälte von Deutschlands größtem Autobauer. Auch sie warnen davor, dass am Ende nichts übrig bleibt. Vor 2023 werde es kein rechtskräftiges Urteil geben, heißt es in Wolfsburg. Und bis die Kläger anschließend ihre Ansprüche eingeklagt haben, werde man im Jahr 2024 sein. Wobei VW an seiner Rechtsauffassung festhält, dass den Kunden durch die „Abschaltautomatik“ sowieso kein Schaden entstanden ist, weil die Autos nach dem Software-Update nach Meinung des Konzerns mangelfrei sind. Mit dieser Meinung steht der Autobauer inzwischen aber ziemlich allein da. Die überwiegende Mehrheit der deutschen Gerichte sieht das anders. Sie sagen: Wenn die Käufer von der illegalen Software gewusst hätten, hätten sie das Auto nie gekauft.

"VW will Kunden davon abzuhalten zu klagen", sagt Klaus Müller, Chef des Bundesverbands der Verbraucherzentralen (VZBV). Und Prozessfinanzierer und Prozessanwälte versuchen die Kunden davon abzuhalten, sich an der MFK zu beteiligen. "Die Werbetrommel läuft auf Hochtouren", kritisiert Jutta Gurkmann, die beim Verbraucherverband für die MFK zuständig ist. Die Anwälte würden Dinge versprechen, die sie nicht halten können.

Was sollen die VW-Kunden tun?

Die Kunden haben die Wahl. Wer einen Skoda, VW, Seat oder Audi mit dem Dieselmotor EA 189 hat und das Auto nach dem 1. November 2008 gekauft hat, kann sich der Musterfeststellungsklage des VZBV und des ADAC anschließen. Das Verfahren ist für die Verbraucher kostenlos und schützt diejenigen, die sich in das Klageregister eintragen, vor der Verjährung. Der Nachteil: Sollte sich VW nicht vorher auf einen Vergleich einlassen, muss man nach Abschluss des Musterverfahrens noch einmal seinen eigenen Schaden einklagen. Allerdings ist es möglich, dass auch hier Prozessfinanzierer ihre Unterstützung anbieten. Wenn wichtige Fragen im Musterfeststellungsverfahren vorab geklärt sind, ist deren Prozessrisiko übersichtlich.

Für Rechtsschutzversicherte gilt: lieber selber klagen

Wer eine Rechtsschutzversicherung hat, sollte dagegen besser auf eigene Faust klagen. Darin sind sich alle einig. Die Versicherung deckt Anwalts- und Gerichtskosten ab. Man kommt sehr viel schneller an sein Geld und man kann selbst über Vergleiche entscheiden, sagt Ralph Sauer. Er gehört zu den Anwälten, die den Prozess in Braunschweig führen. Seine Kanzlei Dr. Stoll& Sauer ist eine der größten in Deutschland, wenn es um Klagen von VW-Kunden geht.

Prozessfinanzierer übernehmen das Risiko, kassieren aber eine Provision

Wer nicht rechtsschutzversichert ist, aber das Prozessrisiko vermindern will, kann seinen Prozess auch von einem Prozessfinanzierer bezahlen lassen. Prozessfinanzierer übernehmen alle Kosten, kassieren dafür bei Erfolg zwischen 20 und 35 Prozent. Profin ist nicht der einzige Player, auch die britische Firma Therium ist im Spiel. Sie kooperiert mit Gansel.

Der vierte Weg: Myright

Mehr als 40.000 Menschen haben sich für einen vierten Weg entschieden. Sie haben ihre Ansprüche an den Rechtsdienstleister Myright abgetreten, der Sammelklagen führt. Bei Erfolg bekommen die Kunden am Ende Geld, ohne selbst klagen zu müssen, zahlen dafür aber eine Provision von 35 Prozent.

Allerdings ist unklar, ob die Massenabtretungen rechtens sind. Diese Frage wird demnächst vom Bundesgerichtshof in einem Verfahren gegen das Rechtsportal wenigermiete.de geklärt. Wegen der Unsicherheit rät auch Myright seinen Kunden jetzt dazu, sich in das Klageregister einzutragen. „Wir sind weiterhin der Meinung, dass die MFK ein unbefriedigendes Instrument ist“, heißt es in einem Schreiben an einen Golffahrer. „Wir weisen jedoch darauf hin, dass VW die Gültigkeit unserer Abtretungsvereinbarung (für die Sammelklage) anfechtet. Sollte VW damit erfolgreich sein, womit wir nicht rechnen, wären Ihre Schadensansprüche verjährt.“ Dem könne man vorsorglich entgegenwirken, indem man sich „zusätzlich“ bei der MFK anmeldet.

Jeder kocht sein Süppchen

Dieselgate ist einer der größten Industrieskandale in Deutschland, sagt VZBV-Chef Klaus Müller. Allein in Deutschland sind 2,5 Millionen Menschen betroffen. Vor vier Jahren wurde der Abgasskandal publik, seit 2017 sind die deutschen Gerichte mit der Frage befasst, was Dieselkäufer als Wiedergutmachung verlangen können. Die Erfolgsaussichten für die Kläger sind gut, sagt der Berliner Anwalt Gansel. 90 Prozent der Fälle würden gewonnen. Eine sichere Sache dank der gut gefüllten Datenbanken der Anwälte und Prozessfinanzierer, in die alle Infos zu Urteilen und Vergleichen eingehen. „Wir wissen vorher, was hinterher herauskommt“, erklärt Rother. Deshalb würden sich seine angloamerikanischen Investoren auf das Massengeschäft einlassen.

Es gibt zahlreiche Urteile

Das Problem: Es gibt unzählige Urteile von Land- und Oberlandesgerichten, aber noch keine höchstrichterliches Entscheidung. Der Bundesgerichtshof wird wahrscheinlich im nächsten Frühjahr entscheiden. Klägeranwälte hoffen auf eine verbraucherfreundliche Rechtsprechung, nachdem die höchsten deutschen Zivilrichter Anfang des Jahres schon einmal durchblicken ließen, dass sie die Softwaremanipulationen für einen Mangel halten und der Kunde Gewährleistungsansprüche hat.

Jeder nimmt sich das, was ihm passt

So lange es aber kein verbindliches BGH-Urteil gibt, läuft die Lobbyschlacht. Jede Seite zitiert Entscheidungen, die die eigene Position untermauern sollen. Zentrale Fragen sind aber in Wirklichkeit ungeklärt: Sollten die Kunden gegen VW gewinnen, muss der Konzern ihnen dann auch Zinsen auf den Kaufpreis zahlen? Und müssen die Verbraucher ihrerseits eine Nutzungsentschädigung für die gefahrenen Kilometer leisten? Erst wenn diese Fragen entschieden sind, lässt sich abschätzen, wie viel ein Schadensersatzanspruch wirklich wert ist.

VW könnte seine Strategie ändern

Hinzu kommt: Auch die Strategie von VW könnte sich ändern. Denn bisher versuchen die Wolfsburger, für sie negative Urteile zu vermeiden, indem sie Vergleiche schließen. Das Ziel: Nachahmer abzuschrecken. Doch im nächsten Jahr dürften die meisten Ansprüche von VW-Dieselbesitzern mit EA189-Motoren verjährt sein, wenn sie nicht noch in diesem Jahr klagen oder sich der Musterfeststellungsklage anschließen. Für VW heißt das: Das Nachahmerrisiko sinkt.

Es könnte auch schneller gehen, als die Kritiker sagen

Und vielleicht geht die Musterklage auch viel schneller als ihre Kritiker sagen. Es sei denkbar, dass das Musterverfahren schon im nächsten Jahr beim Bundesgerichtshof landet, glaubt Rechtsanwalt Sauer. Beim Bundesverband der Verbraucherzentralen hält man es für möglich, dass sich VW letztlich doch auf einen Vergleich einlässt, auch wenn die Wolfsburger erklären, man halte einen Vergleichsschluss derzeit für "kaum vorstellbar".

Verbraucherschützer sind offen für Vergleichsverhandlungen

"Wir sind offen dafür", sagt Klaus Müller. "Wenn VW in Vergleichsverhandlungen eintreten will, unsere Telefonnummer ist bekannt", meint Deutschlands oberster Verbraucherschützer. In anderen Ländern schließt VW Vergleiche. In den USA hat der Konzern umgerechnet 25 Milliarden Euro gezahlt, Anfang der Woche gab es einen Vergleich in Australien. Dieselkunden sollen dort allerdings nur mickrige 870 Euro pro Auto bekommen. "Viel zu wenig", meint Müller, für deutsche Kunden sei Australien kein Maßstab.

Wie ein Vergleich aussehen könnte

Sollten die Verbraucherschützer die Musterfeststellungsklage für sich entscheiden, würde VW mit einem Vergleich deutlich günstiger fahren als sich hinterher in 100.000 oder 200.000 Anschlussverfahren zu verkämpfen, meint Anwalt Sauer. Ein Vergleich könnte so aussehen, dass die Kunden ihr Auto zum vollen Kaufpreis zurückgeben können. Dann müssen die Fragen der Verzinsung und der Nutzungsentschädigung geklärt werden. Oder die Kunden behalten ihre Autos und bekommen eine Einmalzahlung als Entschädigung. Diese Variante wäre VW höchstwahrscheinlich lieber. Was sollen sie auch mit den all den alten Dieseln?

Ein Vergleich würde aber wohl nur den Menschen offen stehen, die sich an der Musterfeststellungsklage beteiligen.

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