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„Wir müssen Kinder wie Könige behandeln“, sagt der Theologe Bernd Siggelkow.

© dpa

Interview mit "Arche"-Gründer Bernd Siggelkow: „Man sollte die heutige Form des Jugendamtes abschaffen“

Wir müssen Kinder mehr fördern, sagt Bernd Siggelkow, Gründer des Kinder- und Jugendhilfswerks "Die Arche". Im Tagesspiegel-Interview erklärt er, was Weihnachten für ihn bedeutet, was Arche-Kinder zum Fest bekommen und warum er er das Jugendamt abschaffen will.

Herr Siggelkow, das Kinder- und Jugendhilfswerk „Arche“, das Sie 1995 in Hellersdorf gegründet haben, versorgt mittlerweile deutschlandweit jeden Tag rund 4000 bedürftige Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Was bedeutet Weihnachten für Sie?
Eigentlich liebe ich Weihnachten. Es ist für mich ein schönes und besinnliches Fest. Aber mir bereiten diese Tage immer auch sehr viele Sorgen, weil ich mir viele Gedanken über die Familien in unserem Land mache, die nicht so viel haben.

Ihre Einrichtung bietet nicht nur kostenloses Essen für Jung und Alt, sondern auch Hausaufgabenbetreuung, sportliche und kreative Aktivitäten, Ferienfreizeiten sowie Sozial-, Rechts- und Schuldnerberatung. Was für Menschen kommen zu Ihnen?
Es sind eben nicht die sogenannten Schmarotzer, die Hartz IV beziehen und zu faul sind, für ihre Kinder zu kochen. Was den Eltern fehlt, ist Perspektive und Würde. Viele von ihnen verlieren dann sehr schnell den Blick für ihre Kinder. Wenn sie zusammen auf engstem Raum sind, kann es schnell Probleme geben.

Wie sieht es bei der „Arche“ in Hellersdorf aus?
Bei den Erwachsenen sind es in diesem Bezirk vor allem viele alleinerziehende Mütter, die zur Arche kommen. Sie sind keine Akademikerinnen und haben vielleicht nicht den besten Bildungsstand, aber sie wollen keine schlechten Vorbilder für ihre Kinder sein und möchten arbeiten. Sie bewerben sich zehn bis 70 Mal im Jahr, und sie kriegen beim Vorstellungsgespräch immer wieder die gleiche Frage gestellt: Was machen Sie, wenn die Kinder krank sind? Wenn sie dann antworten, dass sie zu Hause bleiben müssen, und der Arbeitgeber sagt, ich brauche aber jemanden, der arbeitet, dann ist das frustrierend.

Und die Kinder? Was fehlt ihnen am meisten?
Es geht nicht in erster Linie um finanzielle Not. Natürlich können Empfänger von Transferleistungen keine allzu großen Sprünge machen. Ein viel größeres Problem aber ist: Viele junge Menschen wachsen heute in emotionaler Armut auf. Viele von ihnen haben nicht das Gefühl, dass es irgendjemanden gibt, der an sie glaubt, der sie wertschätzt und unterstützt. Einige kriegen sogar von ihren Eltern zu hören, dass sie unerwünscht sind. Bei den Kindern bleibt das hängen und hinterlässt eine Narbe. Mit Blick auf das Materielle benehmen sich die Kinder wie kleine Erwachsene. Sie kämpfen um die Existenz. Es soll niemandem auffallen, dass sie irgendwie anders sind – sie versuchen, ihre Armut zu kaschieren.

Mit welchen Mitteln?
Nehmen wir das Beispiel Schule. Dort gehen die Mittelschicht, die Armen und die Reichen zusammen in eine Klasse. Wenn da einer auffällt als arm, weil er vielleicht nicht die richtigen Klamotten trägt, wird er ganz schnell ausgegrenzt. Die Kinder schaffen sich deshalb Statussymbole wie Handy oder Markenhose, um nicht aufzufallen. Wenn es so weit ist, dass Kinder sich mit sechs Jahren Mobiltelefone statt Barbiepuppen wünschen, dann sind sie keine Kinder mehr. Das ist nicht richtig.

Was tut die „Arche“ dagegen, dieser emotionalen Armut entgegenzuwirken?
Kinder brauchen jemanden, der ihr Potenzial und ihre Begabungen erkennt. Jemanden, der sie motiviert. Das Elternhaus und die Schule spielen da eine ganz große Rolle. Leider sagen Eltern und Lehrer viel zu selten: ,Das kannst du gut, mach‘ weiter! Oder: Steck den Kopf nicht in den Sand!’ Wir versuchen, den Kindern in der Arche das zu vermitteln.

Was die Arche-Kinder zu Weihnachten bekommen

Weihnachten in unserer Gesellschaft ist vor allem auch ein Fest des Konsums…
... und unsere Kinder sind davon geprägt. Und wie! Sie wollen natürlich auch Geschenke von ihren Eltern, und sie bekommen sie auch – und man ist manchmal sehr überrascht, wie groß die Gaben sind. Aber man hat auch das Gefühl: Das ist die Form von Liebe, die die Kinder bekommen. Viele von ihnen identifizieren sich letztlich mit dem, was sie geschenkt bekommen. Nach dem Motto: Wenn ich etwas kriege, bin ich wertvoll. Sonst nicht.

Ist das ein Plädoyer an die Eltern, auf Geschenke zu verzichten?
Nein, Kinder sollen sich an Weihnachten natürlich etwas wünschen dürfen. Mithilfe unserer Unterstützer können wir von der Arche an Weihnachten jedem unserer Kinder einen individuellen Wunsch im Wert von bis zu 30 Euro erfüllen. Darüber hinaus gibt es für alle Arche-Kinder in Deutschland ein einheitliches Geschenk – in diesem Jahr ein Kleidungsstück mit unserem Logo drauf.

Feiern die Arche-Kinder denn in Ihrer Einrichtung Weihnachten?
Nein, wir haben über die Feiertage geschlossen. Das ist für viele Kinder gar nicht so einfach. Für sie ist nach dem Geschenk nämlich Schluss mit Weihnachten. In den Weihnachtsferien wissen sie dann nicht, wohin sie gehen sollen, weil die Arche zu hat.

Sie sind selbst Vater von sechs Kindern. Wie verbringen Sie das Fest?
In den vergangenen Jahren haben meine Familie und einige Arche-Mitarbeiter an Weihnachten einige besonders bedürftige Familien besucht. Dieses Jahr will ich einer Mutter mit 15 Kindern an den Feiertagen Lebensmittel vorbeibringen. Heiligabend verbringen wir im Berliner Hofbräu an der Karl-Liebknecht-Straße mit 600 bis 700 Familien: Die Arche lädt sie zum Mittagessen ein.

Was die Wirtschaft für Kinder tun sollte

Die Arche arbeitet auch mit Unternehmen zusammen. Warum sollte sich die Wirtschaft mit dem Thema Kinderarmut auseinandersetzen?
Die Schwachen, die keine Förderung erfahren, weil sie zu Hause keine Unterstützung haben, bleiben auf der Strecke. Und das sind die, die aufgeben. Sie bringen wirtschaftlich gesehen unserer Gesellschaft niemals etwas. Schon allein aus ökonomischen Gründen müsste man aber genau in diese Kinder investieren und sie fördern. Man weiß heute ja schon, dass es siebenmal günstiger ist, ein Kind präventiv zu fördern als beispielsweise einen Strafvollzug oder einen Drogenentzug zu bezahlen.

Diese Forderung ist in der Gesellschaft und Politik aber offensichtlich noch nicht angekommen…
Ich finde, dass der Staat in dieser Angelegenheit eigentlich gar nicht der richtige Ansprechpartner ist. Man sollte versuchen, das Thema Kinderarmut mit Wirtschaftsunternehmen und Sozialeinrichtungen gemeinsam zu lösen. Außerdem sollte man die heutige Form des Jugendamtes abschaffen und seine Aufgaben in die Hände von Trägern geben. Die Jugendämter sind doch heute in bestimmten Bezirken schon allein mit der Menge von Menschen, für die sie zuständig sind, überfordert. Sie treffen Entscheidungen nur noch nach Aktenlage. Dieses System muss sich verbessern.

Könnte sich der Staat denn an anderer Stelle sinnvoll im Kampf gegen Kinderarmut einbringen?
Wir wissen heute, dass viele Kinder, die von Hartz IV leben, ohne Frühstück und Pausenbrot in die Schule gehen. Es kostet zwar Geld, aber warum kann nicht der Staat das Schulessen für alle Kinder bezahlen, wie das etwa in Skandinavien der Fall ist? Das würde sofort dazu beitragen, dass viele Kinder, die vorher unaufmerksam waren, einfach weil sie nichts gegessen haben, in der Schule konzentriert sind.

Ist es wirklich so einfach?
Wir haben jedenfalls an Schulen in Potsdam und Frankfurt am Main positive Erfahrungen mit organisiertem Schulessen gemacht.

Wenn Sie die Kinderarmut in Deutschland abstellen müssten: Wie würden Sie vorgehen?
Das Hauptproblem in unserem Land ist: Bildung ist abhängig vom Einkommen der Eltern. Wenn die nicht die nötigen Ressourcen haben, um beispielsweise die schulischen Leistungen ihrer Kinder zu verbessern, dann machen wir im Land der Dichter und Denker einen großen Fehler. Auf der einen Seite gibt es in Deutschland Eltern, die pro Jahr mehr als eine Milliarde Euro für die Nachhilfestunden ihrer Kinder ausgeben. Auf der anderen sind die Eltern, die es sich nicht leisten können. Dabei wären viele Kinder eigentlich intelligent genug, aufs Gymnasium zu gehen. Und wir müssen unseren Kindern zeigen, dass wir sie wertschätzen, wie in Finnland zum Beispiel. Dort hat der Bildungsminister veranlasst, dass die Kinder wie Könige behandelt werden. Davon sind wir in Deutschland meilenweit entfernt. So lange wir die Rahmenbedingungen nicht ändern, werden wir alle unsere Kinder als arm bezeichnen müssen – nicht nur die, die Transferleistungen beziehen.

Das Gespräch führte Sarah Kramer.

Der Gründer: Bernd Siggelkow wurde 1964 in St. Pauli geboren und ist dort auch aufgewachsen. Der gelernte Kaufmann und Theologe arbeitete unter anderem als Jugendpastor, bis er 1995 in Hellersdorf das christliche Kinder- und Jugendhilfswerk „Die Arche“ gründete. Für sein Engagement wurde er mit dem Bundesverdienstkreuz und mit dem Verdienstorden des Landes Berlin ausgezeichnet.

Die Arche: Die Arche bietet Kindern eine warme Mahlzeit, Hausaufgabenhilfe und Freizeitbeschäftigungen. Die Einrichtung ist mittlerweile an 18 Standorten in Deutschland aktiv und wird durch Spenden finanziert.

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