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Unsicher. Viele Patienten fühlen sich schlecht über sogenannte IGeL-Leistungen informiert oder wollen ihrem Arzt nicht widersprechen.

© picture alliance / dpa

Individuelle Gesundheitsleistungen: Wie Ärzte mit Igel-Leistungen abkassieren

Mit individuellen Gesundheitsleistungen machen die Ärzte Geld. Für die Patienten ist das nicht nur kostspielig, sondern manchmal auch riskant.

Schon vor vier Jahren sah sich der damalige Ärztekammerpräsident genötigt, seinen Standesgenossen ins Gewissen zu reden. Die Patienten, so mahnte Jörg-Dietrich Hoppe, müssten „stets darauf vertrauen können, dass medizinische Gründe und nicht Gewinnstreben den Arzt motivieren“. Doch sehr wirkungsvoll scheint sein Appell nicht gewesen zu sein. Im Gegenteil: Die niedergelassenen Mediziner haben ihre Nebengeschäfte weiter ausgeweitet. Inzwischen, so ergab eine Umfrage der Techniker Krankenkasse, bekommt bereits jeder zweite Patient beim Arztbesuch sogenannte individuelle Gesundheitsleistungen (IGeL) angeboten.

Ob Bachblütentherapie, Eigenblutbehandlung, PSA-Test oder Messung des Augeninnendrucks: Schätzungen zufolge setzen die 143.000 niedergelassenen Ärzte mit solchen Offerten pro Jahr mehr als eine Milliarde Euro um. Und nicht nur, dass die meisten dieser Selbstzahlerleistungen aus Expertensicht keinerlei nachweisbaren medizinischen Nutzen haben. Etliche davon können, wie der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDS) warnt, sogar gesundheitsschädlich sein.

NUR EINGESCHRÄNKT EMPFOHLEN

Um die Patienten nicht allein den womöglich einseitigen Ratschlägen geschäftstüchtiger Mediziner zu überlassen, betreibt der MDS ein Internetportal, das die wichtigsten Selbstzahlerleistungen genauer unter die Lupe nimmt (www.igel-monitor.de). Ein Wissenschaftler-Team hat dort in den vergangenen drei Jahren 37 solcher Untersuchungen und Behandlungen bewertet. Das Ergebnis ist ernüchternd: 16 wurden als negativ oder „tendenziell negativ“ beurteilt, 13 schnitten mit unklarem und nur vier mit einem tendenziell positiven Ergebnis ab. Als rundweg positiv wurde kein einziges der Selbstzahlerangebote bewertet.

SCHÄDEN AM AUGE

Gar nicht begeistert zeigten sich die Tester auch bei ihrer jüngsten Auswertung – einer vor allem älteren Menschen angebotenen Kombination aus Augenspiegelung und Messung des Augeninnendrucks. Diese Untersuchung soll dazu beitragen, den Grünen Star, der zum Erblinden führen kann, möglichst früh zu erkennen und zu therapieren. Ein Nutzen wäre gegeben, wenn dadurch tatsächlich Sehbeeinträchtigungen verhindert werden könnten, sagte Michaela Eikermann, Leiterin des Bereichs Evidenzbasierte Medizin beim MDS. Dafür habe man in den wissenschaftlichen Studien aber „keine ausreichenden Hinweise“ gefunden. Stattdessen stießen die Experten auf Risiken. Durch die Untersuchung seien Schädigungen des Auges möglich, befanden sie. Zudem bestehe die Gefahr, dass Gesunde die Krankheit diagnostiziert bekämen und unnötigen Folgeuntersuchungen und Therapien ausgesetzt würden.

ÜBERFLÜSSIGE OPERATIONEN

Letzteres ist einer der meist geäußerten Kritikpunkte bei Früherkennungsuntersuchungen, den mit Abstand am häufigsten angebotenen und in Anspruch genommenen Selbstzahlerleistungen. Beim Ultraschall der Eierstöcke zur Krebsfrüherkennung etwa hätten Studien gezeigt, dass Frauen häufig grundlos beunruhigt worden seien, in einigen Fällen sogar gesunde Eierstöcke entfernt wurden. Und auch bei PSA-Tests zur Früherkennung von Prostatakrebs könne es zu Fehldiagnosen und schlimmstenfalls zu überflüssigen Operationen kommen, die den Patienten womöglich Inkontinenz oder Impotenz bescherten.

Frauenärzte vermitteln die meisten Igelleistungen

Unsicher. Viele Patienten fühlen sich schlecht über sogenannte IGeL-Leistungen informiert oder wollen ihrem Arzt nicht widersprechen.
Unsicher. Viele Patienten fühlen sich schlecht über sogenannte IGeL-Leistungen informiert oder wollen ihrem Arzt nicht widersprechen.

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Am häufigsten offeriert werden Igel- Leistungen von Gynäkologen, deshalb sind auch die meisten Abnehmer weiblich. Es folgen Zahn- und Augenärzte. Augenspiegelung („tendenziell negativ“), Ultraschall-Untersuchungen von Brust („unklar“) und Eierstöcken („negativ“), sowie PSA-Tests („tendenziell negativ“) und professionelle Zahnreinigung („unklar“) gehören zu den meist verkauften Selbstzahlerangeboten in deutschen Arztpraxen.

Die Bewertungen des IgeL-Monitors basieren auf den Methoden der Evidenzbasierten Medizin (EbM). Um Nutzen oder Schaden einer Selbstzahlerleistung herauszufinden, recherchiert ein MDS- Team aus Medizinern und Methodikern in medizinischen Datenbanken und wertet die Informationen systematisch aus. Sämtliche Analyseschritte sind dokumentiert. Die Versicherten erfahren, welche Leistungen von den Kassen bei Beschwerden übernommen werden, für die ihnen der Arzt kostenpflichtige Leistungen anbietet. Sie erhalten Auskunft über deren Preisspanne und auch Tipps zum Verhalten gegenüber drängenden Medizinern.

KRAMPFADERN UND MIGRÄNE

Als „tendenziell positiv“ werden lediglich folgende Offerten gelistet: Akupunkturbehandlungen zur Migräne-Prophylaxe, Laserbehandlung von Krampfadern, Lichttherapie bei saisonal bedingten Depressionen und Stoßwellentherapie bei Fersenschmerz. Dass es nicht mehr sind, ist kein Wunder: Für medizinisch notwendige Leistungen haben hier in Deutschland schließlich die Krankenkassen aufzukommen. Die Definition obliegt dabei keineswegs allein den Versicherern, sondern auch Medizinern und Krankenhausbetreibern im Gemeinsamen Bundesausschuss.

BESSER INFORMIEREN

Den Kommentaren auf den Seiten des Internetportals ist zu entnehmen, dass sich viele Versicherte unsicher und den Medizinern bei ihren Entscheidungen ausgeliefert fühlen. Manche gaben auch rundweg an, überredet oder gedrängt worden zu sein. „Wir halten die Entwicklung auf dem boomenden IGeL-Markt für bedenklich“, sagt MDS-Geschäftsführer Peter Pick. Patienten würden nicht ausreichend über Nutzen und Risiken informiert. Und über Alternativen, die von den Kassen bezahlt werden, werde oft gar nicht gesprochen.

Ärztevertreter dagegen bezweifeln die Seriosität der Bewertungen. Wenn es den Kassen wirklich darum gehe, ihre Versicherten umfassend zu informieren, müssten sie für mehr Transparenz bei der Bewertung und bei den daran beteiligten Personen sorgen, sagt der aktuelle Ärztekammerpräsident Frank Ulrich Montgomery.

Allerdings haben auch Bundesärztekammer und Kassenärztliche Bundesvereinigung auf die Kritik reagiert und einen Ratgeber für Patienten und Ärzte erstellt. Darin findet sich, neben Checklisten und Behandlungsvertrags-Mustern, der Appell, die Patienten ausgiebig zu beraten, ihnen unabhängige Informationen zur Verfügung zu stellen, ihnen „angemessene Bedenkzeit“ zu gewähren und eine Rechnung nur dann zu stellen, „wenn die Patientin oder der Patient vor der Behandlung ausdrücklich verlangt, auf eigene Kosten behandelt zu werden, und dieses schriftlich bestätigt hat“. Auch in der Arztbroschüre findet sich der Hinweis, dass es Selbstzahlerleistungen gibt, die Patienten „einem Risiko aussetzen, obwohl sie nachweislich keinen Nutzen haben“ Als Beispiel wird die Früherkennung von Eierstockkrebs durch transvaginale Ultraschalluntersuchung genannt.

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