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Streikführer Claus Weselsky ließ sich vor zwei Wochen von seinen Leuten vor der Konzernzentrale am Potsdamer Platz feiern.

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In der Sackgasse: Die Hintergründe des Bahnkonflikts

Vor fünf Jahren wurde das Tarifeinheitsgesetz eingeführt. Damals kündigte GDL-Chef Weselsky die Expansion seiner Gewerkschaft an. Das führt jetzt zu Problemen.

Anfang 2015 hat Claus Weselsky einen Konflikt angekündigt, der Ende dieser Woche seinen vorläufigen Höhepunkt erreicht. „Sollte das Gesetz kommen, dann habe ich nur die Alternative zu expandieren“, sagte der Vorsitzende der Lokführergewerkschaft GDL damals dem Tagesspiegel. Expansion bedeutet den Organisationsbereich ausdehnen und Mitglieder gewinnen. Expansion oder Exitus – mit dieser Zuspitzung ruft Weselsky zum Arbeitskampf auf.

Arbeitskampf bringt Mitglieder

Das Gesetz zur Festschreibung der Tarifeinheit (ein Betrieb, eine Gewerkschaft, ein Tarifvertrag) kam dann im Juli 2015; da die Bahn jedoch erstmals in diesem Jahr das Gesetz anwenden will, kocht der Konflikt erst jetzt hoch. Im Kern der Tarifeinheit steht die Privilegierung der größeren Gewerkschaft in Betrieben, in denen zwei Gewerkschaften für identische Beschäftigtengruppen Tarifverträge abschließen.

Diese Tarifkollision gibt es nach Angaben der Bahn in rund 70 der 300 Betriebe des Konzerns. Und nur in 16 der 70 habe die GDL mehr Mitglieder als die konkurrierende Eisenbahnverkehrsgewerkschaft EVG. Weselsky braucht also Mitglieder, um in „Minderheitsbetrieben“ nicht die Tariffähigkeit zu verlieren. Das wirksamste Instrument zur Mitgliederakquise ist der Arbeitskampf.

Claus Weselsky gegen Martin Seiler, Lokführer gegen Postbeamter. Die Protagonisten des Konflikts stammen aus verschiedenen Welten. Der Sachse Weselsky, 1959 in Dresden geboren, lernte Schlosser und Lokomotivführer. 1992 fuhr er seinen letzten Zug und arbeitet seitdem als hauptamtlicher Gewerkschafter.

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Seiler, 1964 in Baden-Baden geboren, war erst Postgewerkschafter und dann Manager, Personalchef der Telekom und seit 2018 Personalvorstand bei der Bahn. Seiler, Typ Olaf Scholz, bleibt seit Monaten auf Linie: Der Bahn geht es wegen Corona schlecht, deshalb gibt es nicht viel zu verteilen, man habe trotzdem das Tarifangebot verbessert und warte auf die Rückkehr der GDL an den berühmten Verhandlungstisch.

Bahnchef Richard Lutz macht keine glückliche Figur in diesen Tagen. Die Eskalation des Tarifstreits fällt auf das Management zurück.
Bahnchef Richard Lutz macht keine glückliche Figur in diesen Tagen. Die Eskalation des Tarifstreits fällt auf das Management zurück.

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Allein wird Weselsky den Weg dorthin kaum finden. Er brachte seine Leute unter anderem mit ätzenden Attacken auf den Bahn-Vorstand („Nieten in Nadelstreifen“) in Streikstimmung. Gleichzeitig hat er sich selbst gelähmt mit der Festlegung, nur der Tarifabschluss des öffentlichen Dienstes werde akzeptiert.

Für einen Tarifpolitiker ist das ungewöhnlich, denn eine Forderung wurde noch nie eins zu eins umgesetzt. Bis nächste Woche werden seine Mitglieder fast zehn Tage gestreikt haben. Mit jedem Streiktag steigen die Erwartungen, und es wird immer schwieriger für den Streikführer, seinen Kampftruppen am Ende einen Kompromiss zu erklären.

DGB und Beamtenbund sind im Spiel

Seiler wiederum sucht hinter den Kulissen Lösungswege, etwa mit den Chefs der Dachverbände DGB, dem die EVG angehört, und Beamtenbund, der den Streik seines Mitglieds GDL mitfinanziert. Wenig hilfreich waren zuletzt die Einlassungen von Bahnchef Richard Lutz, der mit Vorwürfen die Wut der GDLer befeuerte.

Vermutlich war das ein Symptom der Hilflosigkeit, denn eine Strategie ist bei der Bahn nicht zu erkennen. Auch deshalb werden die Ratschläge und Appelle aus der Politik in den kommenden Tagen zunehmen, zumal Weselsky mit dem Arbeitskampf von Donnerstag bis Dienstagfrüh um 2 Uhr erstmals das Wochenende einbezieht. Es ist Wahlkampf, und die Opposition wird die Regierung für den lästigen Streik im Staatskonzern mitverantwortlich machen wollen.

Spartarif mit der EVG

Die Bahn steckt in einer strategischen Sackgasse. Vor einem knappen Jahr handelte Seiler der EVG einen Corona-Spartarifvertrag ab mit einer Nullrunde für 2021. Wenige Wochen später gab es einen Tarifabschluss für den öffentlichen Dienst der Kommunen, und wiederum kurz darauf scheiterten die Schlichtungsverhandlungen zwischen Bahn und GDL unter der Leitung des früheren Potsdamer Ministerpräsidenten Matthias Platzeck.

Weselsky will für seine Leute die Einkommenserhöhung - 1,4 Prozent sowie 600 Euro Coronaprämie in diesem Jahr und 1,8 Prozent 2022 - wie sie die Tarifbeschäftigten der Kommunen bekommen. Warum sollten Lokführer und Zugbegleiterinnen schlechter behandelt werden als Müllwerker oder Erzieherinnen? Den Kommunen geht es auch nicht besser als der Bahn, argumentiert die GDL.

Weselsky als Sieger? Unvorstellbar!

Tariffrieden kostet Geld – aber in diesem Fall wird es besonders teuer. Denn die EVG hat sich eine Meistbegünstigungsklausel in den Tarifvertrag schreiben lassen. Wenn die Bahn mit der GDL einen besseren Tarif abschließt, dann muss auch der Tarif der EVG entsprechend nachgebessert werden. Die Bahn zahlt also einen hohen Preis, und der ist keinesfalls nur in Euro zu messen. Schwerer noch wiegt der Ansehensverlust respektive der Imagegewinn der drei Spieler im Bahn-Konzern.

Die EVG, von Weselsky als „Hausgewerkschaft“ der Bahn verspottet, bekommt höhere Einkommen für ihre Mitglieder, weil die verfeindete GDL dafür einen Arbeitskampf gewagt hat. Derzeit hat die EVG rund 184 000 Mitglieder und die GDL etwa 37 000. Seit Jahren schrumpft die Zahl der EVG, die GDL gewinnt. Wie kommt es wohl an bei den 211 000 Bahn-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeitern hierzulande, wenn am Ende die GDL mehr rausholt für alle?

Weselsky ist der einzige wahre Arbeiterführer bei der Bahn – vor dieser Deutung haben die Manager im Bahn-Tower mehr Angst als vor den Kosten einen Tarifabschlusses auf dem Niveau des öffentlichen Dienstes. Deshalb kann Martin Seiler nicht nachgeben.

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