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Der Genossenschaftsbau in der Haeselerstraße (Charlottenburg) steht für Mitbestimmung, qualitativ hochwertiges Wohnen und innovatives Bauen. Diese Anlage wurde 1907 bis 1913 als erster genossenschaftlicher Siedlungsteil nach Plänen und Entwürfen des Architekten Paul Kolb für den Berliner Spar- und Bauverein, heute: Berliner Bau- und Wohnungsgenossenschaft von 1892, errichtet. Die Wohnanlage hat ausschließlich Vorderhauswohnungen. Sie steht unter Denkmalschutz.

© Thilo Rückeis

Wohnungsbaugenossenschaften: Hier geht es allen gleich gut

Der Reformwohnungsbau in der Hauptstadt – eine Rückschau auf die Gründung Groß-Berlins.

Berlin ist immerzu im Werden und hat mit Blick auf sein Einwohnerwachstum schon ganz andere Zeiten bewältigt als heute. Städtebau und Stadtplanung waren bereits im 19. Jahrhundert die herausragenden Themen der Zeit. Dass es mehr Wohnungen für alle, auch für die weniger Vermögenden, geben müsse, wurde schon vor einhundert Jahren beklagt. Und dass es zu wenige Kleinwohnungen gebe. Anders als heute wurde das Problem aber beherzt angepackt. Genossenschaften waren beim Reformwohnungsbau ganz weit vorne mit dabei – und wären es sicher auch heute gerne, wenn ihnen die Landesregierung in Erbpacht Grundstücke zur Verfügung stellen würde. Bislang aber sei kein einziges landeseigenes Grundstück an Wohnungsbaugenossenschaften oder andere gemeinwohlorientierte Bauträger übertragen worden, sagte Stadtentwicklungssenatorin Katrin Lompscher (Linke) auf einer Klausurtagung ihrer Partei in Potsdam vor einer Woche. Der Koalitionsvertrag sah anderes vor.

Wie sich die Zeiten ändern – und ähneln. Noch um 1824 war Berlin eine Kleinstadt mit rund 225 000 Einwohnern. Diese Zahl hat sich dann aber zirka alle 25 Jahre verdoppelt, wie Matthias Noell, Professor für Architekturgeschichte und Architekturtheorie an der Universität der Künste Berlin (UdK), kürzlich in einem Vortrag zum Berliner Wohnungsbau vor 100 Jahren sagte.

Nach der Reichsgründung 1871 setzte in Deutschland schlagartig eine Konjunkturwelle ein. Um 1890 strömten Tausende in die Industrie- und Handelsmetropole Berlin und lebten in Mietskasernen. Die Mieten stiegen zwischen 1880 und 1892 um fast 75 Prozent. Eine staatlich organisierte Wohnungspolitik gab es nicht. Die zunehmende Wohnungsknappheit und steigende Mieten führten besonders in der Hauptstadt zu einer Abwanderung ärmerer Bevölkerungsschichten und kleinerer Handwerksbetriebe in die Vorortgemeinden. Die Geschichte klingt vertraut. Um 1900 gab es noch einmal eine Verdoppelung der Berliner Bevölkerung: Infolge der Eingemeindungen im Zuge der Schaffung Groß-Berlins verdoppelte sich die Einwohnerzahl noch einmal – von 1,9 Millionen im Jahr 1919 auf 3,87 Millionen im Jahr 1920.

Mit den Wohnverhältnissen in Berlin konnte es so nicht weitergehen, wie Friedrich Engels es auch in englischen Arbeiterquartieren beobachtet und über „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ (1845) beschrieben hatte: „Die Häuser sind bewohnt vom Keller bis hart unters Dach, schmutzig von außen und innen, und sehen aus, daß kein Mensch drin wohnen möchte. (...). Haufen von Schmutz und Asche liegen überall umher, und die vor die Tür geschütteten schmutzigen Flüssigkeiten sammeln sich in stinkenden Pfützen. Hier wohnen die Ärmsten der Armen, die am schlechtesten bezahlten Arbeiter (…).“

Erst mit der Schaffung des "Radialsystems" war in Berlin Schluss mit den Kloaken auf der Straße

Derartige Kloaken gab es auch in Berlin – bis sich ab 1885 James Hobrecht um die Einführung der Stadtentwässerung verdient machte. Die unterirdischen Anlagen – das „Radialsystem“ – machten weltweit Furore. Sie verbesserten die Lebensverhältnisse in vielen Großstädten enorm. Für die Wohnungen war damit aber noch nichts gewonnen. Mit der Industrialisierung herrschte in Berlin zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine bedrückende Wohnungsnot, wie die Leiterin der Unteren Denkmalschutzbehörde des Bezirks Pankow, Kerstin Lindstädt, in ihrem sehr lesenswerten Band „Berlin-Pankow. Aus der Orts- und Baugeschichte“ (2010) herausarbeitet: „Da die Berliner Bauordnung Kellerwohnungen und dichte Hinterhofbebauungen legalisierte, entstanden hier, wie auch in anderen Metropolen, hygienisch und sozial unzumutbare Wohnsituationen. Dies führte zu humanitären, karikativen und sozialreformerischen Bestrebungen für bessere Wohn- und Lebensbedingungen.“ Auf einem Einladungsplakat zu einer öffentlichen Versammlung im Rahmen der Kampagne für den Zweckverband Groß-Berlin hieß es 1912 – neben einer Käthe-Kollwitz-Zeichnung eines Mädchens mit Kind auf dem Arm: „600000 Gross-Berliner wohnen in Wohnungen, in denen jedes Zimmer mit 5 und mehr Personen besetzt ist. Hunderttausende von Kindern sind ohne Spielplätze“. Das „Trockenwohnen“ war damals die Regel – die ersten Mieter zogen bereits ein, während die Bauleute auf den Gerüsten noch die Fassaden verputzten. Um die Mieten bezahlen zu können, wurden Räume in den beengten Wohnungen häufig auch noch untervermietet.

Die Befriedigung der sozialen Bedürfnisse war nicht nur an und für sich wichtig. Politiker fürchteten sich angesichts dieser Verhältnisse auch vor Revolution und Aufständen wie in Frankreich.

Wie aber schafft man im Massenwohnungsbau einen hohen technischen und hygienischen Standard?

Das Gesetz über die Wirtschafts- und Erwerbsgenossenschaften von 1889 (Genossenschaftsgesetz) ermöglichte die Gründung von Genossenschaften mit beschränkter Haftungspflicht. Dadurch entstanden besonders gegen Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts eine Vielzahl gemeinnütziger Wohnungsbaugenossenschaften, die bisweilen heute noch existieren und neben den ökonomischen auch soziale Zwecke wie die Kinderbetreuung oder Altenpflege verfolgen.

1892 wurde die Genossenschaft „Berliner Spar- und Bauverein e.G.m.b.H.“ mit dem Ziel gegründet, bessere Wohnbedingungen für Arbeiter zu schaffen. Es entstanden mehrere Anlagen. Architekt Alfred Messel lieferte als Vorstandsmitglied kostenlos die Baupläne. 1903 wurde ein größeres Gelände in Charlottenburg erworben, die Planung für die neue Siedlung Haeselerstraße übernahm der Architekt Paul Kolb.

Der Berliner Spar- und Bauverein wurde bald zum Modell eines großstädtischen Genossenschaftstyps, so Denkmalschützerin Lindstädt, der in sozialer, kultureller und wohnreformerischer Hinsicht experimentellen Charakter trug. „Der Reiz dieses Modells lag in der gelungenen Kooperation zwischen Arbeiterschaft und liberalem Bürgertum, die neben einer bemerkenswerten Genossenschaftsarchitektur erste Beispiele einer heute bereits klassisch zu nennenden Genossenschaftsarchitektur hervorbrachte.“

Für die damalige Zeit keineswegs selbstverständlich, sondern sehr fortschrittlich wurde auf die maximale Ausnutzung des Baulandes zugunsten der Anlage von Gartenhöfen und Kinderspielplätzen verzichtet. Die Baublöcke sollten „ausgiebig durchlüftet und beleuchtet“ sein. Kolb legte mehrere hufeisenförmige Baukörper nebeneinander an. Innenhöfe – mit Spielplatz und Turngerät – wechselten mit repräsentativen Ehrenhöfen ab. Man kleckerte nicht im Wohnungsbau, sondern „klotzte“ und dies auch noch sehr ansehnlich. Bis 1913 entstanden entlang der Haeselerstraße 859 Wohnungen, ein Wohlfahrtshaus mit Saal und Bibliothek, ein Wirtshaus, zwei Kindergärten und 21 Läden.

Natürlich bliebt dies nicht das einzige große Bauprojekt von Genossenschaften in jener Zeit. „Es ist beachtlich, dass die Bauten aus der Reformzeit in Berlin doch ganz gut erhalten geblieben sind“, sagt Matthias Noell von der UdK: „Das liegt daran, dass sie in den schlechtesten Lagen entstanden – an den Stadträndern. In Weißensee zum Beispiel konnte man günstig Terrain erwerben und bauen. Bei den Zerstörungen Berlins wurde das Zentrum am stärksten betroffen.“ Noell gefällt besonders die architektonischen „Highlight“ des frühen genossenschaftlichen Wohnungsbaus. Noell sieht „eine Hinwendung zur Neo-Renaissance, eine Hinwendung zur Vielgliedrigkeit und zur Gartenstadt der Landhausbewegung mit gebrochener Dachlinie“. Aufteilungen wie Vorder- und Hinterhäuser sind hier nicht angelegt. Hier geht es allen gleich gut. „An diesem einen einzigen Beispiel kann man den Reformwohnungsbau sehen: Es entstehen 1-Zimmer-Wohnungen mit einer Innentoilette als radikaler Neuerung – und die die Wohnungsbaugenossenschaften haben auch noch kollektive Badeanstalten eingeführt.“

Firmen errichteten Werkswohnungen auf genossenschaftlicher Basis

Ende des 19. und verstärkt Anfang des 20. Jahrhunderts gingen und gehen auch heute noch Firmen dazu über, Werkssiedlungen für ihre Arbeiter zu errichten, recherchierte Kerstin Lindstädt. Wie aktuell dieses Vorgehen ist, zeigt der nebenstehende Beitrag.

Einer der interessantesten einer ganzen Reihe von Architekten im Genossenschaftsbau jener frühen Zeit war Paul Mebes (1872-1938). „Er zeigt reduzierte Fassaden“, sagt Matthias Noell, „nur das Notwendige“. Mebes ist ein Architekt, der bis heute viel Wirkung hat, der sehr viel baute – bis in die dreißiger Jahre hinein. Es sind städtebauliche Anlagen, die einfach schön sind und malerisch angelegt. Auf einer Seite konnte man die Anlage betreten, auf der anderen wieder herausgehen, es gab diagonale Blickgänge und Zierfassaden mit wenig Ornamentik wie zum Beispiel in der Grabbeallee. In die städtebauliche Planung integrierte Paul Mebes hier natürliche Gegebenheiten wie den Zingergraben und den vorhandenen Baumbestand. Zur Erschließung legte er eine geschwungene Privatstraße an. Der Beamten-Wohnungsverein zu Berlin eG, für den Mebes diese Wohnanlage 1908-09 schuf, wurde 1900 mit dem Ziel gegründet, den Mitgliedern zu gesunden und preiswerten Wohnungen zu verhelfen. Die Genossenschaft hat heute rund 12000 Mitglieder. Man fragt sich angesichts dieser Geschichte, warum sich die rot-rot-grüne Landesregierung mit Genossenschaften so schwer tut.

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