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Blick auf das Bahngelände im "Secteur Rungis" in Paris. Links im Hintergrund der grüne "Turm der Biodiversität" des Architekten Edouard François.

© Pierre L'Excellent

Stadtentwicklung: Wie eine Brache an der Seine Beine bekommt

In Paris werden genutzte Bahnanlagen mit Wohn- und Bürohäusern überbaut. Das Quartier von Rungis soll erster Öko-Bezirk der Stadt werden.

Genau zwanzig Jahre liegt die Einweihung des Neubaus der Bibliothèque nationale de France zurück, der den Namen des damaligen Staatspräsidenten François Mitterrand trägt. Mitterrand wollte den ärmlichen Osten von Paris, wo sich Gleisanlagen, Lagerhäuser und Kleingewerbe neben gesichtslosen Wohnhäusern für Zuzügler drängten, mit diesem kulturellen Großbau aufwerten und ihm eine neue Entwicklungsperspektive geben.

Zwanzig Jahre nach der Eröffnung ist das Areal noch immer in Veränderung begriffen, doch lässt sich die vollständige Urbanisierung inzwischen erahnen.

Die Nationalbibliothek, die sich von außen als eine große Plattform entlang der Seine darstellt, mit Magazintürmen an den vier Ecken, bildet den Ausgangspunkt für ein in südöstlicher Richtung sich erstreckendes Gelände, das insbesondere die Gleisanlagen des näher am Stadtkern gelegenen Bahnhofs Gare d’Austerlitz umfasst. Eine neue Hauptstraße wurde festgelegt, mit dem anspruchsvollen Namen Avenue de France, die das Rückgrat der Stadtentwicklung bis hin zum Boulevard périphérique bildet, der das nominelle Stadtgebiet umschließenden Autobahn, die sich längst als schier unüberwindliche Sperre erwiesen hat.

Die Besonderheit des Entwicklungsgebiets ist das Fortbestehen der Eisenbahnanlagen, des Vorfelds der Gare d’Austerlitz: Sie wurden einfach überdeckelt. Dass diese Deckelung auf mächtigen Betonstützen vor jedweder Bebauung mit den vorgesehen Büro- und Wohngebäuden erfolgte, hat die weitere Entwicklung nicht eben einfacher gemacht. Die Hochbauten müssen sich der Lage und Dimension der Stützen anpassen und zudem gegen die Erschütterungen des unverändert abgewickelten Eisenbahnverkehrs dieses einen von sechs hochfrequentierten Pariser Kopfbahnhöfen abgefedert sein.

So funktioniert Nachhaltigkeit gepaart mit anspruchsvoller Ingenieurtechnik

Die Entwicklung des 3,5 Hektar umfassenden Geländes liegt jetzt in der Hand der Beratungs- und Projektmanagementfirma Arcadis mit Hauptsitz in Amsterdam. In Deutschland war Arcadis unter anderem an der Entwicklung des Europa-Viertels in Frankfurt am Main beteiligt, in London am Bau des Emirates-Fußballstadions im Norden der Stadt. In Paris geht es nicht allein um Stadtentwicklung, sondern zugleich um umweltschonende Nachhaltigkeit: der „Secteur Rungis“, benannt nach einem traditionellen Quartier, wird als „erster Öko-Bezirk der Stadt“ beworben.

Alles grün. Öko-Bauten in Rungis
Alles grün. Öko-Bauten in Rungis

© B. Schulz

Wie Nachhaltigkeit bei einem ingenieurtechnisch anspruchsvollen Gebäude beschaffen sein kann, demonstriert eindrucksvoll das Wohnhochhaus „Turm der Biodiversität“ des Architekten Edouard François. Es steht am südöstlichen Rand des Entwicklungsgebiets, dort, wo eine neue Stadtstraße samt Straßenbahn in Parallelführung zum Boulevard périphérique die Querverbindung zu anderen Teilen der Stadt herstellt. Eine verkehrsreichere Lage lässt sich kaum denken.

Für den 16-stöckigen Turm galt die alte Höhenbeschränkung nicht mehr, die ab 1975 eine Grenze von 37 Metern vorsah. Zuvor war die Wohnungsnot gerade im Südosten der Stadt, in der Gegend der Place d’Italie, mit Punkthochhäusern bekämpft worden, deren negative Auswirkungen auf ihr jeweiliges Quartier zur Rückkehr zur traditionellen Lückenschließung und Blockrandbebauung auch im Bereich des Sozialen Wohnungsbaus geführt haben.

Die Pflanzen am Turm sollen zur Renaturierung der Brache beitragen

Edouard François ist in Deutschland kaum bekannt, dabei betreibt er seit 1998 sein eigenes Büro und kann inzwischen auf eine ganze Reihe von Öko-Bauten verweisen. In Paris debütierte er in diesem Genre 2004 mit dem Wohnhaus „Tower Flower“ ebenfalls in einem Entwicklungsgebiet, jedoch am nordwestlichen Rand der Innenstadt. In Rungis hat François die Außenseiten des Turms mit Galerien versehen, auf denen in schmalen, tiefen Töpfen Pflanzen, ja ganze Bäume wachsen können und so im Laufe der Zeit die ganze Erscheinung des Gebäudes in einen senkrechten Wald verwandeln.

Zudem sollen die in dieser eher ungeschützten Gegend durchaus heftigen Winde dafür sorgen, die Samen der am Turm wachsenden Pflanzen über das ganze Areal zu verstreuen und so zu einer allmählichen Renaturierung der Industriebrache beitragen. In einem ersten Stadium wachsen Kletterpflanzen, sie sind die Pioniere; nach zehn Jahren werden regelrechte Bäume in die nur 45 Zentimeter im Durchmesser großen Töpfe gepflanzt. Dass dies funktioniert, hat das Architekturbüro über Jahre erprobt.

Ein Beispiel für die gewandelte Strategie der Stadtentwicklung

Unsichtbar ist das konstruktive Gerüst des Wohnturms. Er steht direkt über den Bahngleisen. Dafür musste eine Brückenkonstruktion gewählt werden, die zwischen ihren Stützpfeilern nicht weniger als fünf Gleise des Fern- und Regionalverkehrs überspannt. Um die unaufhörlichen Erschütterungen abzufangen, steht das Gebäude oberhalb des Erdgeschosses auf Spiralfedern, für die ein eigenes Zwischengeschoss eingefügt wurde. Andere Gebäude entlang der Avenue de France weisen gewaltige Schwingungsdämpfer im Erdgeschossbereich auf, die nur mühsam durch Ummantelung verdeckt werden können; François hingegen verweist mit Stolz darauf, dass der technische Apparat bei ihm unsichtbar bleibt.

In Rungis hat François die Außenseiten des Turms mit Galerien versehen, dort wachsen Pflanzen in schmalen Töpfen.
In Rungis hat François die Außenseiten des Turms mit Galerien versehen, dort wachsen Pflanzen in schmalen Töpfen.

© Pierre L'Excellent

Das Quartier von Rungis ist ein Beispiel für die gewandelte Strategie der Stadtentwicklung. Stéphane Kirkland, Urbanist und Verfasser eines Buches über Paris unter Napoléon III., berät seinerzeit die Stadtentwickler von Arcadis. Er nennt die unter Staatspräsident Sarkozy ausgegebene Losung „Grand Paris“ eine „vollständige Wende“ gegenüber der vorangehenden Selbstbeschränkung des „Paris ist groß genug“. Ein Problem der Stadt ist das „erstaunliche Geflecht von Autobahnen, Auffahrten, Bahngleisen“ – „wie kann man das städtisch machen?“

Anders aber als in Metropolen wie London, wo aufgelassene Gewerbegebiete vorwiegend für shopping entwickelt werden, wird in Paris Wohnraum unter dem Signum der „Habitation à loyer modéré“ geschaffen, der französischen Entsprechung des Sozialen (Miet-)Wohnungsbaus. Die 100 Apartments des „Biodiversitäts-Turmes“ werden von einer städtischen Gesellschaft bewirtschaftet, sie sind „für junge Arbeitnehmer“ vorgesehen – am Rand der Innenstadt, aber doch in Paris und mit öffentlichem Verkehr hervorragend angebunden. Der rollt schließlich unablässig durch den Untergrund.

Das Projekt auf einen Blick

ORT

Paris, 13. Bezirk

GESAMTFLÄCHE

3,5 Hektar

HÖCHSTES GEBÄUDE

Tour de la Biodiversité des Architekten Edouard François, 50 Meter hoch bei 16 Stockwerken, 100 Apartments, begrünte Außenfassaden

BESONDERHEIT

Überbauung des Bahngeländes bei Weiterbetrieb des Fern- und Regionalverkehrs

PLANUNGSSTART

Masterplan 1991 vom Stadtrat angenommen

FERTIGSTELLUNG

Kontinuierliche Weiterentwicklung des Geländes bis in die 2020er Jahre

INTERNETAUFTRITT

www.arcadis.com

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