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Im September 2008 meldete Lehman Brothers Insolvenz an.

© imago/Heike Schreiber-Braun

Lehre aus der Lehman-Pleite: Niedrige Zinsen machen süchtig

Vor 10 Jahren implodierte die US-Investitionsbank. Was lässt sich daraus lernen?

Es war das „Lehman-Wochenende“. Jene zwei Tage im September 2008, an deren Ende klar war, dass der Staat die US-Investmentbank Lehman Brothers nicht retten wird. Die zu jenem 15. September führten, an dem die Bank schließlich Konkurs anmeldete und damit den Beginn der schlimmsten globale Wirtschafts- und Finanzkrise seit den 30er Jahren markierte.

Begünstigt von relativ niedrigen Zinsen kaufen immer mehr Amerikaner, die es sich eigentlich nicht leisten können, zwischen 2005 und 2007 Häuser oder Wohnungen auf Pump. Finanziert wird das von Banken, die immer häufiger beide Augen zudrücken. Experten sprechen von „Subprime“-Hypotheken. Banken entledigen sich des Risikos oft, indem sie die wackeligen Forderungen mit finanzmathematisch ausgeklügelten Wertpapieren kleingestückelt in alle Welt verkaufen – mit dem Segen von Ratingagenturen, die den letztlich durch Häuser abgesicherten Papieren oft beste Bonität bescheinigen. „Ich persönlich kann es nicht mehr nachrechnen“, wird der damalige Commerzbank-Chef Martin Blessing später zu dieser Art Papiere sagen.

Inmitten der Immobilienblase in den USA machte die Investmentbank Lehman Brothers zunächst noch gutes Geld. Ab 2007 aber konnten immer mehr Hausbesitzer ihre Darlehen wegen steigender Zinsen nicht mehr abbezahlen – die faulen Kredite aber wurden weiter zu Wertpapieren gebündelt und von Bank zu Bank als Geldanlage weitergereicht. Bei Lehman sammelten sich seit 2007 Verluste an.

Washington lehnte eine Rettung ab

Der damalige US-Notenbankchef Ben Bernanke sah kein größeres Problem, vor allem keine Gefahr, dass die Hypothekenmarktschwäche auf die Gesamtwirtschaft überspringt. Von „Subprime“-Krediten hört man in Deutschland erst, als die IKB Deutsche Industriebank 2007 in die Knie geht. Auch sie hatte in Wertpapiere investiert, die auf solchen Hypotheken fußten.

Kurz vor dem dramatischen Wochenende wurde dann bekannt, dass die Fed und das Finanzministerium in Gesprächen mit privaten Investoren über einen Einstieg waren. Doch auch Verhandlungen mit der Bank of America und der britischen Barclays scheiterten – womöglich, weil diesmal nicht mit staatlicher Unterstützung zu rechnen war: Washington lehnte eine Rettung ab.

Zehn Jahre nach der Lehman-Pleite ist die Finanzwelt nach Einschätzung von Deutsche-Bank-Vorstandsmitglied Sylvie Matherat deutlich stabiler. Sie glaube nicht, dass sich ein solcher Fall noch einmal wiederholen werde, sagte Matherat: „Wir haben seitdem viel dafür getan, solche Ansteckungseffekte zu stoppen und das Finanzsystem insgesamt zu stärken.“

Auch die Euro-Hüter haben den Immobilienmarkt im Auge, wie EZB-Aufseherin Daniele Nouy kürzlich in einem Interview erklärte. „Was die nächste Krise verursachen könnte? Das weiß ich nicht, aber ich denke, es könnte der Immobilienmarkt sein“, sagte sie.

Experten schauen mit Sorge auf die Schweiz

Wenn die Zinsen steigen, dann führt das zu tieferen Immobilienpreisen. Sollte der gesunkene Wert des Hauses nicht mehr als Sicherheit für den Kredit ausreichen, müssen die Eigentümer Kapital nachschießen. Wer das nicht kann, dem droht eine finanzielle Schieflage – und der Bank je nach Vorgehen eine Abschreibung auf einen faulen Kredit. Von einem Preisrückgang durch rasch steigende Zinsen wären nicht nur private Anleger, sondern auch professionelle Investoren wie Versicherungen betroffen. „Pensionskassen oder Immofonds haben in den vergangenen Jahren davon profitiert, dass sie die Liegenschaften immer höher bewerten konnten“, erläutert Immobilienexperte Werner Fleischmann, der ein Maklerunternehmen besitzt. Bei einem Preisrückgang auf breiter Front drohten ihnen Wertberichtigungen.

Immobilienexperten sehen in der Schweiz eine heraufziehende Krise. Der Bauboom sowie rückläufige Zuwanderungszahlen sorgen für nahezu rekordhohe Leerstände. Standen 2015 laut amtlicher Statistik in der Schweiz 50476 Wohnungen leer, so waren es – ebenfalls zum Stichtag 1. Juni – in diesem Jahr 72 294.

Bei Mietwohnungen haben sich die Leerstandzahlen laut einer Studie der Credit Suisse in den vergangenen neun Jahren mehr als verdoppelt. Gleichzeitig ist sehr viel Geld im System, das in Immobilienmärkte gepumpt wird. Preiskorrekturen nach unten sind deshalb nicht zu erwarten: Die Nachfrage nach Immobilien ist groß, vor allem Pensionskassen befeuern in Ermangelung anderer renditeträchtiger Anlagemöglichkeiten den Neubau. Sollten in absehbarer Zeit auch noch die Zinsen rasch ansteigen, könnte das im schlimmsten Fall eine Immobilienkrise nach sich ziehen, die auch die Banken mit sich reißt. Auch die Schweizerische Nationalbank schaut sich den Immobiliensektor genauer an – schließlich sind die Zinsen in keinem anderen westlichen Land so niedrig und die Verschuldung der Privathaushalte so hoch.

Schweizer Privathaushalte sind hoch verschuldet

In den vergangenen Jahren sind in der Schweiz die Immobilienpreise rasant gestiegen. Angesichts der rekordtiefen Zinsen haben professionelle Investoren und vermögende Privatleute auf der Suche nach Anlagemöglichkeiten verstärkt Wohnungen gekauft. Das weckt Erinnerungen an die Immobilienkrise in den USA. Einer Studie der Universität Pittsburgh zufolge waren auch dafür mitunter vermögendere Haushalte verantwortlich. Sie hatten nicht nur eine Hypothek auf ihr eigenes Heim aufgenommen, sondern mithilfe eines Kredits auch eine zweite oder dritte Immobilie gekauft – und auf weiter steigende Preise spekuliert. Doch die Rechnung ging nicht auf: Als die Preise am US-Markt fast über Nacht einbrachen, konnten sie ihre Kredite nicht mehr bedienen. Das löste einen Sog aus, der den gesamten Immobilienmarkt mit in den Abgrund riss.

Davor ist auch die Schweiz nicht gefeit: Hier sind die Leitzinsen mit minus 0,75 Prozent seit fast vier Jahren so tief wie kaum sonst wo auf der Welt. Banken müssen der Nationalbank für Guthaben ab einer bestimmten Höhe einen Strafzins zahlen. Daher sind sie eher gewillt, Kredite zu vergeben. Und bei Privatpersonen kurbeln ebendiese niedrigen Zinsen die Nachfrage nach Krediten an. Dabei sind die Privathaushalte in der Schweiz so hoch verschuldet wie nirgends sonstwo. Grund genug für die Schweizerische Nationalbank, ein wachsames Auge auf den Immobilienmarkt zu halten: Denn wenn die Zinsen stark steigen, könnten auch in der Alpenrepublik viele Wohnungsbesitzer Probleme bekommen, ihre Hypotheken zurückzuzahlen. Das würde auch Banken in Mitleidenschaft ziehen, die die Kredite vergeben haben. Dazu zählen vor allem systemrelevante Institute wie die Raiffeisen-Gruppe und die Zürcher Kantonalbank, aber auch die Großbanken UBS und Credit Suisse. Die Notenbank hat bei ihrer vierteljährlichen Sitzung im Juni insbesondere vor einer Korrektur bei Mietwohnungen gewarnt, die zu Anlagezwecken gekauft wurden – sogenannten Wohnrenditeliegenschaften. Zu den Investoren zählen hier auch viele Privatleute, die oft hohe Kredite aufnehmen. „Das Segment der Wohnrenditeliegenschaften ist definitiv überhitzt. Ich würde sagen, es ist das größte Risiko, das wir haben“, sagte ein Regulierungsexperte. Warum Branchenkenner beunruhigt sind, wird mit einem Blick auf die Größe des Marktes in der Schweiz deutlich: Die Großbank Credit Suisse schätzt das ausstehende Volumen der Hypothekarkredite Ende 2018 auf eine Billion Franken.

Finanzbranche muss schärferen Regeln befolgen

Dass die Zinsen auch in der Schweiz früher oder später wieder steigen, gilt als ausgemacht. Aktuell liegt der Zins für eine zehnjährige Hypothek bei weniger als zwei Prozent – im Durchschnitt der Jahre von 1960 bis zum Ausbruch der Finanzkrise 2007/08 waren es rund fünf Prozent.

Eine positive Folge der Lehman-Krise hierzulande: Regulierer und Aufseher zogen die Zügel an, die Finanzbranche muss seither eine Vielzahl schärferer Regeln befolgen. Sie sei nicht der Ansicht, dass die Branche überreguliert sei, sagte Matherat, die im Deutsche-Bank-Vorstand seit November 2015 für Regulierungsthemen zuständig ist. „Allerdings sollte die Gesamtsituation bewertet werden. Es sind nicht unbedingt zu viele Vorschriften, aber es sollte hinterfragt werden, ob wirklich alle Regeln sinnvoll sind und vor allem, wie diese im Zusammenspiel funktionieren“, forderte die Französin.

In Zeiten einer Rezession können natürlich auch die Immobilienmärkte betroffen sein: Die allgemeine Kaufkraft hängt eng mit Jobs der deutschen Exportindustrie zusammen, für die Städte wie Stuttgart und Frankfurt oder Regionen wie Süddeutschland stehen. In Städten wie Berlin wird sich aber kurz- und mittelfristig sehr wenig am Nachfrageüberhang für Miete und/oder Kauf ändern.

Der letzte Akt der Lehman-Pleite ist indes bis heute nicht zu Ende: Sparer leiden unter den Niedrigzinsen.

(mit AFP/dpa/Reuters)

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