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Viele der Modehändler könnten nach dem Wegfall von großen Teilen des Weihnachtsgeschäfts die Sommerwaren nicht bezahlen, ihnen drohe die Insolvenz, erläutert ein Sprecher des BTE das zentrale Problem der Branche. Einer aktuellen Erhebung des Einzelhandelsverbands HDE zufolge fürchten 61 Prozent der befragten Textilhändler, 2021 ihr Geschäft aufgeben zu müssen.

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Leerstand durch Corona: 24000 Insolvenzen erwartet

Die Aussetzung der Antragspflicht für sich abzeichnende Pleiten wird bis Ende April verlängert. Wer zahlt die letzte Rate?

Normalerweise muss ein Insolvenzantrag spätestens drei Wochen nach Eintritt eines Insolvenzgrunds gestellt werden. Wegen der Pandemie hatte die Bundesregierung im vergangenen Frühjahr die Meldepflichten für Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit außer Kraft gesetzt. Für Zahlungsunfähigkeit gilt die Antragspflicht seit Oktober wieder, für überschuldete Firmen soll sie nun bis Ende April ausgesetzt bleiben. Die Regelung gilt, wenn Staatshilfen bis zum 28. Februar beantragt werden und deren Summe ausreicht, um dem Unternehmen auf die Beine zu helfen. Das Unternehmen muss glaubhaft machen, dass es durch die Coronakrise in Schwierigkeiten geriet.
Die Bundesregierung verlängerte die bis 31. Januar 2021 befristete Aussetzung der Insolvenzantragspflicht wie berichtet am Mittwoch – nach einer entsprechenden einstimmigen Entschließung des Bundesrates. Die Länderkammer hatte am Montag in ihrer 999. Sitzung gefordert, die befristete Aussetzung der Insolvenzantragspflicht nochmals zu verlängern. So soll verhindert werden, dass grundsätzlich gesunde Unternehmen in die Insolvenz rutschen, weil sie noch auf die Auszahlung der staatlichen Corona-Hilfsmaßnahmen warten. Es wäre eine unbillige Härte, so meinten die Länder in ihrer Sondersitzung, wenn Firmen zum 1. Februar 2021 einen Insolvenzantrag stellen müssten, obwohl sie eigentlich Anspruch auf staatliche Hilfeleistungen hätten – zum Beispiel die sogenannten November- und Dezemberhilfen oder die Überbrückungshilfe III, die momentan noch gar nicht beantragt werden kann.

Die Wirtschaftsweise Veronika Grimm sieht die Pläne der Bundesregierung kritisch, die Insolvenzmeldepflichten für coronageplagte Betriebe noch länger auszusetzen. Ein Unternehmen erkenne derzeit nicht, ob es tatsächlich mit einem zahlungsfähigen Betrieb Verträge eingehe, sagte die Ökonomin der Universität Erlangen-Nürnberg in einem Interview der „Zeit online“. Das berge die Gefahr von Insolvenzen mit Dominoeffekten. Grimme, die als Wirtschaftsweise selbst die Bundesregierung berät, sprach von einer „riskanten Gratwanderung“. Stefan Genth, Hauptgeschäftsführer des Handelsverbands Deutschland HDE, kritisierte, dass Hilfsgelder für vom Lockdown betroffene Einzelhändler „überhaupt nicht“ ankämen. „Wir werden eine unglaubliche Pleitewelle erleben“, warnte er für den Fall, dass die Politik hier nicht umsteuere. „Mietausfälle, sinkende Mieteinnahmen und drohende Wertverluste der Immobilien“ als Folge zahlreicher Geschäftsaufgaben befürchtet Andreas Ibel, Präsident des Bundesverbandes Freier Immobilien- und Wohnungsunternehmen BFW. Ibel und Genth äußerten sich so Mitte Januar in einer Anhörung des Deutschen Bundestages zur Zukunft der Innenstädte. Was aber bedeutet das nun für gewerbliche Besitzer von Wohn- und Gewerbeimmobilien? Womit müssen sie rechnen, worauf können sie zählen? Welche Chancen und Risiken kommen auf sie zu – werden bereits absehbare Pleiten nur in die Zukunft verschoben? Werden Objekte unter Wert verkauft? Der Tagesspiegel hat Branchenbeteiligte wie zum Beispiel Inkasso- und Kreditunternehmen, Rechtsanwälte und Makler um ihre Einschätzung gebeten.

Nicht wettbewerbsfähige Unternehmen werden künstlich am Leben erhalten

„Bei den Gastronomen und Einzelhändlern wird durch die Verlängerung der Aussetzung der Insolvenzantragspflicht ein Problem auf die lange Bank geschoben. Rücklagen sind meist aufgebraucht und man hat den Eindruck, dass offene Forderungen – auch ältere – nur mit staatlichen Hilfsgeldern bedient werden“, sagt Hendrik Schlereth, Geschäftsführer des Inkassounternehmens Germania. Er notiert seit Herbst einen merklichen Anstieg an Kundenanfragen „vor allem auch im Zusammenhang mit Gewerbeimmobilien“. Was mag da als Welle auf die Volkswirtschaft zurollen? Das Statistikamt Berlin-Brandenburg verzeichnete für das dritte Quartal 2020 in Berlin 270 Insolvenzverfahren gegen Unternehmen – das waren 18,9 Prozent weniger als im Vorjahrsquartal. Die voraussichtlichen Summen der Forderungen stiegen allerdings – um 4,7 Prozent auf 137,2 Millionen Euro. „Durch die Maßnahme werden auch Unternehmen weiter am Leben gehalten, die eigentlich nicht mehr wettbewerbsfähig sind“, sagt auch Michael Munsch, Vorstand der Creditreform Rating AG: „Nach Prognose der Creditreform werden demnach für 2021 mehr als 24000 Insolvenzen erwartet. Zum Vergleich: Im vergangenen Jahr (2020) wurden 16300 Insolvenzen in Deutschland erfasst, im Hochkonjunkturjahr 2019 waren es 18830.“

Im laufenden Jahr wird der Leerstand vor allen in Innenstädten zunehmen

Bisher ist eine Insolvenzwelle zwar ausgeblieben. Es ist aber unbestreitbar, dass die Corona-Pandemie zu einer Erhöhung der Insolvenzen führen wird. Insbesondere der Textileinzelhandel und die Gastronomie sind betroffen. Als Beispiele nennt Munsch die Unternehmen Adler, Esprit, AppelrathCüpper, Galeria Karstadt Kaufhof oder auch Maredo und Vapiano. „Auf dem Gewerbeimmobilienmarkt führt dies kurzfristig zu sinkenden Mieten aufgrund fehlender Nachfrage. Eine Insolvenzwelle nach Auslauf der Maßnahmen wird zu mehr Leerstand in manchen Gewerbeimmobilien führen und somit werden auch selektiv die Bewertungen sinken, wenn kurzfristig kein Nachmieter gefunden werden kann“, sagt der Vorstand der Creditreform Rating AG, die zu den führenden europäischen Ratingagenturen gehört. Gerade große Flächen, wie bei Handels- und Modehäusern üblich, können nicht ohne aufwendige Umbauten weitervermietet werden. „Langfristig sollte der Trend sich jedoch umkehren, da andere Konzepte gefunden und gefördert werden“, sagt der Analyst. Vom Leerstand könnten kurzzeitig opportunistische Käufer bzw. Investoren profitieren, sagt Johannes Callet, Rechtsanwalt für Immobilienwirtschafts- und Baurecht in der internationalen Wirtschaftskanzlei Taylor Wessing in Berlin.

Hotels und Shoppingcenter gehören zu den Verlierern – die Gastronomie kommt zurück

Durch die Coronakrise gerieten auch Unternehmen in finanzielle Schwierigkeiten, die eigentlich tragfähige Geschäftsmodelle hätten, sagte Lambrecht. Sie könnten zwar staatliche Hilfen beantragen - es dauere aber oft eine Weile, bis diese ausgezahlt würden. „Wir dürfen diesen Unternehmen nicht die Gelegenheit nehmen, durch die staatlichen Hilfen wieder finanziell auf die Beine zu kommen“, betonte Lambrecht. Das Insolvenzrecht und die Coronakrise sind aktuell kein Treiber für den Gewerbe- und Wohnimmobilienmarkt, der sich vor dem Hintergrund des Zinsniveaus und der Arbeitslosenzahlen sehr stabil zeigt. „Die Coronakrise hat jedoch eine Änderung in der Bewertung der verschiedenen Asset-Klassen mit sich gebracht. Nach unserer Wahrnehmung werden Wohnen, Logistik und Gesundheitsimmobilien stärker nachgefragt, während bei den Asset-Klassen Hotel und Shoppingcenter vorsichtig agiert wird“, sagt Callet. „Die Gastronomie wird zurückkommen – auch wenn Unternehmer zunächst Insolvenz anmelden“, glaubt Germania-Geschäftsführer Hendrik Schlereth: „Vermietern und Lieferanten bleibt wahrscheinlich nichts anderes übrig, als mit den Insolvenzschuldnern von gestern morgen wieder ins Geschäft zu kommen.“ Eigentlich wissen viele Unternehmer – vor allem Gastronomen – momentan selbst nicht, was sie tun sollen: Einerseits generieren sie absehbar selbst keine Liquidität mehr und die Verbindlichkeiten steigen, andererseits gibt es keine Insolvenzantragspflicht. Schleraths Eindruck: „Wenn die Aussetzung der Pflicht zum Insolvenzantrag ausläuft, wird die Zahl der Insolvenzen zunehmen. Und zwar in den von Coronamaßnahmen betroffenen Dienstleistungsbereichen.“ Der Gewerbeimmobilienmakler Colliers Deutschland erwartet ebenfalls Insolvenzen im Gastronomiebereich – „aber auch neue Konzepte, die kommen werden“. Christian Kadel, Head of Capital Markets, Colliers International Deutschland, sieht „bisweilen Chancen zu Umwandlungen von Gewerbe in Wohnen, wenngleich dies für Berlin aufgrund der Rahmenparameter des Mietmarktes wenig realistisch ist“.

Der Finanzmarkt kommt nicht zum Erliegen – der Staat hält alle flüssig

Rechtsanwalt Jan Kehrberg von der Kanzlei GSK Stockmann, die den Berliner Senat immobilienpolitisch und -wirtschaftlich berät, glaubt, dass auf den Finanzmärkten nicht viel passieren wird: „Denn die Lehre aus der Finanzkrise/Lehman-Pleite war, am besten alles in den Bilanzen zu lassen.“ In der Kette werde der Hotelier ohne Einnahmen keine Miete zahlen, der Eigentümer der Immobilie ohne Mieteinnahme keine Zinsen und die Bank ohne Zinseinnahmen keinen Refinanzierungszins und der Kapitalgeber dann eben mal für sechs bis zwölf Monate keine Einnahmen haben. „Dafür bleibt aber der Stamm seines Vermögens unangetastet“, glaubt Kehrberg, der neben seiner anwaltschaftlichen Tätigkeit eine Honorarprofessur an der TU Berlin im Fach „Privatrecht in der Standort- und Projektentwicklung“ bekleidet. Kehrberg sieht die Stunde der Beteiligungsgesellschaften gekommen: „Wer etwas hat und keine Bank braucht, der kann jetzt wieder kaufen und sein Geld, das ansonsten keine Zinsen bringt, gegen Sachwerte tauschen.“ Dies ohne Risiko. Die Wirtschaft mache „mit etwas flacherer Atmung weiter, weil der Staat alle flüssig gehalten hat“.

Es schlägt wieder die Stunde der Private-Equity-Investoren

Auch der Immobiliendienstleister Savills sieht Chancen für Private-Equity-Investoren: „Sollte es zu stark gesteigerten mieterseitigen Insolvenzen kommen, werden nutzerseitig betroffene Immobilien erst einmal auf einen Markt mit einer generell hohen investorenseitigen Liquidität treffen“, sagt Karsten Sievers, Director und Teamleader National Investment bei Savills: „Aufgrund der schlechteren Finanzierbarkeit bietet sich für eigenkapitalstarke Immobilieninvestoren mit gesteigerten Renditeerwartungen die Möglichkeit, vermehrt diese Renditen auch durchzusetzen.“ Wohnimmobilien als stabile Assetklasse würden noch weiter in den Fokus von institutionellen Anlegern rücken, so Savills. Investoren, Entwickler und Berater mit Expertise in Repositionierungen profitieren von der Krisensituation, ist auch Colliers Christian Kadel überzeugt. „Es profitieren Investoren, die über liquide Mittel und einen langen Atem verfügen und schnell zu den günstigeren Konditionen kaufen können“, bilanziert Matthias Möller, Head of Legal beim Berliner Start-up Home HT GmbH, das Wohnungen von Eigentümern anmietet und diese dann weitervermietet und sich um sämtliche Vermarktungs-, Verwaltungs- und Reparaturarbeiten kümmert. Freud und Leid liegen dicht beieinander – bzw. sind eine Frage der Perspektive: „Infolge der zu erwartenden zunehmenden Insolvenzen werden Banken zukünftig weniger finanzieren, da Risikoprämien dort nun anders gesehen werden. Zwangsläufig wird dadurch auch der Druck auf die Immobilienbewertung steigen“, so die Einschätzung von Michael Munsch, Vorstand der Creditreform Rating AG.

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