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Die Suche nach dem guten Ort. Vielleicht wäre die Teilerweiterung des Privaten ins Öffentliche ein Ausweg aus emotionaler Bedrängnis.

© Jonas Holthaus

Die Suche nach dem guten Ort: Warum wir die Stadt mehr als Lebensraum behandeln sollten

Krieg und Corona verfolgen uns bis auf die Couch. Was wird aus unserem Zuhause? Ein Gastbeitrag.

Dass wir in einer Zeit leben, in der sich der Ort, die Definition und unser Verständnis von Zuhause verändern, sagte das Zukunftsinstitut (Frankfurt/Main) schon vor Jahren voraus. Matthias Horx Think-Tank für Trend- und Zukunftsforschung beobachtet Bewegungen wie die „Hygge“-Wohnkultur oder das „Cocooning“ ganz genau. Ganz gleich, aus welchen Gründen die Welt in Bewegung gerät, wie wirkt sich das auf das Verhältnis zwischen dem Bedürfnis nach heimischer Abgeschiedenheit auf der einen und nach gesellschaftlichem Leben auf der anderen Seite aus? Was lässt sich aus den Tendenzen der letzten Zeit für neue Formen des Wohnens ableiten?

Da ist einerseits das Zuhause als privater, höchst individueller Rückzugsort, andererseits wächst der Wunsch, sich in der Gemeinschaft zuhause zu fühlen. Das zeigen Trends wie „Shared Spaces“ und „Neighbourhood Communities“ mit ihren Gemeinschaftsgärten – zum Beispiel.

Kann mit Krieg und Corona auch die totale Isolation kommen oder erleben wir einen neuen Frühling des Gemeinsamen? Kleine Gemeinschaften entstehen neu und verfestigen sich. Nichts ist mehr wie es einmal war. Oder doch?

Der Wert des Wohnens rückt in Krisenzeiten stärker in den Fokus. Schauen wir einhundert Jahre zurück auf die Zwanziger Jahre, sehen wir dort das Wohnen als zentralen Reformgegenstand. Mit der Erfahrung von Krieg, Inflation und Krankheit wurde ein neues Bauen und Wohnen propagiert, das unter Reduzierung der Mittel Vorteile für Viele bringen sollte: günstiger, praktikabler und hell-luftiger Wohnraum. Der Verzicht auf Überfluss, so Walter Benjamin, wandle die Not der Armut zur Tugend in der Geisteshaltung. Nun laufen in bedrohlichen Lagen häufig zwei konträre Bewegungen parallel: Der Rückzug ins Private und die Suche nach Gemeinschaft.

Lockdown und Quarantäne machten Wohnungen zum unfreiwilligen Rückzugsort

Neben Krieg und Armut kommt der Klimawandel als grundlegendster Faktor für die Zerstörung der Lebensgrundlage des Menschen hinzu. Folgerichtig hat die Politik im Jahr 2021 Klimaschutz zum Grundrecht erklärt, was größte Auswirkungen auf unser innerstädtisches Leben und Bauen nun unter Environmental-Social- Governance-Kriterien hat. 2021 war außerdem das zweite Corona-Jahr und ein weiteres, in dem die Wohnung mit Lockdown und Quarantäne auch zum unfreiwilligen Rückzugsort wurde. Zum Beginn der Pandemie war manchmal ein Aufatmen zu vernehmen, weil die Zahl an Terminen und Einladungen abnahm und man es sich stattdessen ohne schlechtes Gewissen zu Hause einrichten (und die Schlabberhose anziehen) konnte. Die digitale Kommunikation ersetzte das persönliche Zusammentreffen außer Haus. Mit andauernder Pandemie, verpflichtendem Homeoffice, Kita- bzw. Schulausfällen und Ausgangsbeschränkungen wurde die Wohnung dann schnell zu eng, zu hellhörig, zu limitiert. In den Sommermonaten der niedrigeren Fallzahlen ging man, lieber noch als in ein Restaurant, nach draußen auf die Plätze und Brücken, um sich dort endlich wieder zu treffen, zu trinken und zu essen. Die ersten provisorisch aufgestellten Tische und Stühle werden schnell wieder genutzt.

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Ebenfalls geblieben ist der intensivierte Blick auf das Leben, auch das in den eigenen vier Wänden. Vier Wände, die als Schutzhülle und Ruheort dienen sollen. Umso verstörender ist es, heute in Europa zu erleben, wie jäh und brachial dieser ureigenste Ort des Menschen, sein Heim, zerstört werden kann, und mit dem Zuhause familiäre Erinnerungsstücke und Gemeinschaft. Hier wird deutlich, dass Wohnen aus viel mehr als Wänden und Möbeln besteht. Es ist vor allem das, was verlässliche und kontinuierliche Geborgenheit für Leib und Seele bieten sollte.

Die Sehnsucht nach diesen Essentials zeigt eine aktuelle Studie der Online-Vermittlungsplattform Houzz, über die Bau-, Einrichtungs- und Renovierungsprojekte vermittelt werden. Danach war 2021 für Innenarchitekten und andere mit dem Wohnglück beschäftigte Unternehmen ein besonders erfolgreiches Jahr. Befragt wurden zwischen dem 21. Februar und 9. März 2022 exakt 239 Unternehmen mit einem Expertenprofil auf Houzz.de. Für das laufende Jahr erwarten die befragten Betriebe eitel Sonnenschein. Eigentlich logisch. Kennen wir nicht alle jemanden, der eben eine neue Küche bestellt, neu gefliest, Wände dämmt, Bad oder Dach erneuert oder eine neue Arbeitsecke eingerichtet hat?

Das Wohnumfeld als Ort wird wichtiger

Wenn also nach der Zukunft der Wohnung gefragt wird, kann es aber nicht nur um die Vorstellung einer architektonischen Form und ihrer Ausstattung gehen. Während das mediale Fenster die Sicht auf eine kritische Weltlage eröffnet, nimmt die Aufmerksamkeit und Wertschätzung des friedlichen Zustandes vor (und hinter) der eigenen Haustür zu. Dazu gehört auch die Art und Weise, wie wir miteinander wohnen. Wie können wir also hier im Kleinen bewahren und fördern, was wir schätzen? Es gilt, das Umfeld als erweiterte Wohnung zu verstehen. Statt privaten Raum kategorisch vom öffentlichen Raum zu trennen, braucht es Hybride, um den Bedarf an Rückzug und gesellschaftlichem Zusammensein in den Vierteln der Innenstädte, aber auch in den Randgebieten ökonomisch und ökologisch verträglich erfüllen zu können. Der Schritt aus der Wohnung auf den Kiez wäre weniger eine Grenzüberschreitung aus dem Schutzraum heraus. Vielmehr lockte es uns nach draußen, weil wir dort mit der Familie, unseren Freunden, Nachbarn und Kollegen in guter Atmosphäre leben und arbeiten können. Das strahlt auch in die eigenen vier Wände ab, die dadurch gleich viel weniger beengend wirken, geöffnet werden.

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Gute Orte im öffentlichen Raum leben ganz wesentlich von den sie flankierenden Nutzungen, insbesondere in den Erdgeschossen. Wenn das eigene Wohnumfeld immer wichtiger wird, dann geht es hier um ein Wechselspiel von privaten und öffentlichen bzw. öffentlichkeitswirksamen Nutzungen, die attraktiv sind für Menschen, da sie es sind, die einem Ort die Bedeutung geben. Sollte die Tendenz zunehmen, dass Inflation, Rohstoffmangel und Klimabewusstsein unseren Umgang mit fossiler Automobilität verändern, wäre das ein Grund mehr, um sich auch der äußeren Stadt als Ort bzw. der Schaffung und Pflege von Orten in der äußeren Stadt zu widmen.

 Edzard Brahms ist Gründer und Geschäftsführer des Projektentwicklers Realace (Berlin), der Standorte, Stadtbausteine und Standortidentitäten zum gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Vorteil miteinander verschränken will.
Edzard Brahms ist Gründer und Geschäftsführer des Projektentwicklers Realace (Berlin), der Standorte, Stadtbausteine und Standortidentitäten zum gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Vorteil miteinander verschränken will.

© Jonas Holthaus

Wenn wir also davon sprechen, dass heute das eigene Wohnumfeld tendenziell wichtiger wird, dann findet einerseits hier nur eine Teilerweiterung des Privaten ins Öffentliche statt. Denn die Privatheit der Wohnung ist andererseits eingeschränkt und hat als virtueller Meetingraum eine Öffnung erfahren. Gleichzeitig veröffentlichen wir Teile unseres (abnehmend privaten) Privatlebens, indem wir es stärker als zuvor in die Wohnumfelder tragen. Hierfür gilt es, sich Gedanken über geeignete Nutzungsgefüge öffentlich zugänglicher, aber teilweise privat „betriebener“ oder genutzter Orte und ihrer Ränder zu machen. Wir sollten die Priorität radikal umdrehen und einmal mit den Rändern der Städte beginnen und neue Konzepte für hybride Nutzungen, identitätsstiftende Elemente und tragende Netze engagierter Akteure entwickeln. Das sind die Elemente für ein „Placemaking“, das mehr erreicht, als aufwendig möblierte aber leere öffentliche Räume – nämlich gute Orte.

Edzard Brahms

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