zum Hauptinhalt
Der Beratungsbedarf von Patienten ist drastisch gestiegen. Und jede dritte Frage dreht sich um Corona.

© dpa/Christophe Gateau

Gesundheitskompetenz der Deutschen schwindet: Nur jeder Dritte versteht seinen Arzt

Die Zahl derer, die sich im Umgang mit Ärzten, Therapieoptionen und Vorsorge überfordert fühlen, steigt. Zwei von drei Bürgern fehlt es an Gesundheitskompetenz.

Die erste Studie vor fünf Jahren war ein Aufreger. Mehr als die Hälfte der Deutschen, so hatte das Interdisziplinäre Zentrum für Gesundheitskompetenzforschung (IZGK) an der Universität Bielefeld damals herausgefunden, seien beim Umgang mit gesundheitsrelevanten Informationen überfordert. Sie hätten Schwierigkeiten, ihren Arzt zu verstehen, Behandlungsoptionen zu beurteilen, wüssten nicht, an wen sie sich mit welchen Gesundheitsproblemen wenden können und wie sich Erkrankungen vermeiden lassen.

Dieses Ergebnis müsse „alle Verantwortlichen im Gesundheitswesen aufrütteln“, drängte der damalige Gesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU). Nötig sei eine „gemeinsame Kraftanstrengung“ von Ärzten, Apothekern, Krankenkassen, Behörden, Pflege-, Verbraucher- und Selbsthilfeverbänden.

Offenbar blieb es bei den Appellen. Denn mit der Gesundheitskompetenz hierzulande ist es seither nicht besser geworden. Im Gegenteil: Die damaligen 54,3 Prozent der Bundesbürger, die nach eigenen Angaben vor komplexen Informationen zu Gesundheit und Krankheit kapitulieren, haben sich mittlerweile zu 64,2 Prozent ausgewachsen.

Das ist das traurige Ergebnis einer nun veröffentlichten IZGK-Folgestudie. Gleiches Erhebungsinstrument, gleiche Methodik und Fragestellung – eine klassische Wiederholungsbefragung. Doch inzwischen sind es zwei von drei Befragten, denen sich die Gesundheitswelt mit allen sie betreffenden Implikationen nicht oder nur lückenhaft erschließt.

Auch Jüngere schneiden schlecht ab

Dabei haben sich die Muster der Gesundheitskompetenz in den verschiedenen Bevölkerungsgruppen im Zeitvergleich nur wenig verändert. Allerdings gibt es interessante Nuancierungen. So hat sich zwar die Gesundheitskompetenz binnen sechs Jahren in sämtlichen Altersgruppen verschlechtert. Im Vergleich zur Auswertung aus dem Befragungsjahr 2014 schneiden nun, im Befragungsjahr 2020, die jüngeren Altersgruppen nochmal deutlich schlechter ab. Gleichzeitig hat sich der Zusammenhang zwischen Bildungsstand beziehungsweise sozialem Status und der jeweiligen Ausprägung von Gesundheitskompetenz weiter verstärkt.

[Wenn Sie aktuelle Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Eine zweite, deutlich ausführlichere und methodisch weiterentwickelte neue Studie zur Gesundheitskompetenz im Rahmen eines WHO-Netzwerks bestätigt diese Tendenzen. Geringe Gesundheitskompetenz treffe „ganz besonders Menschen mit niedriger Bildung, niedrigem Sozialstatus, ältere Menschen und teils auch Menschen mit chronischer Krankheit“, heißt es darin. Dies alles verstärke soziale Ungleichheit. Allerdings habe es während der Corona-Pandemie hier „leichte Verbesserungen“ gegeben, insbesondere bei der digitalen Gesundheitskompetenz.

Verunsicherung durchs zu viele Internet-Infos

Beim Blick auf gesundheitsrelevante Handlungsbereiche falle auf, so resümiert das Autorenteam um Klaus Hurrelmann, Julia Klinger und Doris Schaeffer, „dass Krankheitsbewältigung/Versorgung im Zeitvergleich als noch schwieriger eingeschätzt wird als 2014“ – hier gab es die stärkste Verschlechterung der Gesundheitskompetenz. Insgesamt am schwersten täten sich die Befragten jedoch nach wie vor mit Gesundheitsförderung. Und besonders große Probleme bereite „die Beurteilung von Informationen zu Gesundheitsfragen in den Medien“. 

So falle es den Befragten inzwischen noch schwerer als vor sechs Jahren, „Vertrauenswürdigkeit einzuschätzen und Konsequenzen für das eigene Verhalten daraus abzuleiten“, heißt es in der Studie. „Vieles deutet darauf hin, dass diese Verunsicherung vor allem auf die Zunahme von Informationen im Internet über Online-Kanäle zurückzuführen ist.“

Des weiteren hätten sich bei der Bedeutung und Rangfolge von Informationsquellen Verschiebungen ergeben, so die Bielefelder Forscher. Hausarzt und Facharzt stünden 2020 noch deutlicher an der Spitze als 2014. „Auffällig gestiegen“ sei allerdings der Stellenwert des Internets. „Es gewinnt besonders stark bei Menschen mit einer oder mehreren chronischen Erkrankungen an Bedeutung.“ Das könnte, heißt es in der Studie „darauf zurückzuführen sein, dass nicht nur Informationen, sondern auch digitale Anwendungen (zum Beispiel Apps) zur Verfügung stehen, die es vor sechs Jahren in diesem Umfang noch nicht gab“.

Mehr Schwierigkeiten mit Krankenkassen als mit Ärzten

Am häufigsten berichteten die Befragten mit geringer Gesundheitskompetenz übrigens nicht etwa über Verständnisschwierigkeiten in der Kommunikation mit Fach- und Hausärzten, die kommen mit jeweils 47,5 und 37,4 Prozent nur an zweiter und dritter Stelle.

Ganz vorne bei den Problemen der Betroffenen liegen vielmehr die Krankenkassen. Die Quote derer, die im Kontakt mit ihren Versicherern Verständnisprobleme einräumte, liegt bei 51,8 Prozent. Und sie ist binnen sechs Jahren um knappe zehn Prozentpunkte gestiegen. Möglicherweise sei dies „darauf zurückzuführen, dass sich Versicherungsregeln in den letzten sechs Jahren verändert und verkompliziert haben“, schreiben die Studienautoren. Denkbar sei aber auch ein Zusammenhang mit den Auswirkungen der Corona-Pandemie und den sich daraus ergebenden Anforderungen an ein verändertes Gesundheitsverhalten.

Hausärzte dagegen scheinen sich bei der Kommunikation mit ihren Patienten inzwischen stärker anzustrengen. Die Prozentzahl derer, die Schwierigkeiten mit den Allgemeinmedizinern zu Protokoll gaben, sank um fünf Punkte auf 32,4. Bei den Fachärzten blieb sie unverändert und damit um etwa zehn Prozentpunkte höher.

Je weniger Kompetenz, desto häufiger beim Arzt

Aber unabhängig von der nochmaligen Steigerung: Die Folgen geringer Gesundheitskompetenz erwiesen sich zu beiden Befragungszeitpunkten als gravierend, resümieren die Autoren. So hätten Menschen mit geringer Gesundheitskompetenz einen schlechteren selbst eingeschätzten Gesundheitszustand, sie bewegten sich weniger und ernährten sich ungesünder als Befragte mit hoher Gesundheitskompetenz. „Je geringer die Gesundheitskompetenz, desto weniger lässt sich ein gesundes Muster der Ernährung und eine körperliche Aktivität verzeichnen.“

Beim Tabak- und Alkoholkonsum verhielten sich Menschen mit höherer Gesundheitskompetenz zwar „ebenso gesundheitsschädlich wie andere“, räumen die Forscher ein. Bevölkerungsgruppen mit geringer Gesundheitskompetenz fielen aber durch „eine überdurchschnittlich häufige Nutzung des Gesundheitssystems“ auf. Das betrifft Arztbesuche ebenso wie Dienstleistungen von Zahnärzten, Physiotherapeuten, Psychologen, Diätassistenten oder Optikern.

Aktionsplan liegt bereits vor

Schlussfolgerung und -forderung der Studienautoren: Es müsse jetzt darum gehen, „stärker in die Förderung der Gesundheitskompetenz der Bevölkerung zu investieren und geeignete Rahmenbedingungen für eine nutzerfreundliche Gestaltung der Versorgungsangebote zu schaffen“. Der „Nationale Aktionsplan Gesundheitskompetenz“, der als Reaktion auf die Ergebnisse der ersten Erhebung im Jahr 2018 erstellt wurde, unterbreite hierzu detaillierte Vorschläge.

Tatsächlich benennt das eigens von Experten ausgearbeitete 66-seitige Konzept vier Handlungsfelder, um die Gesundheitskompetenz in Deutschland gezielt zu stärken - und formuliert dazu 15 konkrete Einzelempfehlungen. Das reicht von der Aufnahme von Gesundheitsthemen in die Bildungs- und Lehrpläne von Kitas und Schulen über ein Verbot von Werbung mit Falschinformationen für ungesunde Lebensmittel bis hin zur Einrichtung von  „interessenunabhängigen Patienteninformationszentren“.

Gerade in Zeiten der Corona-Pandemie und auch immer neuer Digitalisierungsgesetze sei Gesundheitskompetenz unverzichtbar und bedürfe „dringend weiterer Förderung“, drängen die Bielefelder Forscher. Und die Erfahrungen während der Krise zeigten ja auch, „dass umfangreiche, kontinuierliche, auf vielen Kanälen verbreitete Gesundheitsinformation wirksam ist – vorausgesetzt, sie ist passgenau auf die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen zugeschnitten, barrierefrei, verständlich, zuverlässig und anwendbar“.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false