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"Wir treffen Versorgungsentscheidungen nach Beweislage, nicht nach dem Wunsch, möglichst großen Bevölkerungsgruppen einen Gefallen zu tun."

© picture alliance / Soeren Stache

Gesundheitsexperte Josef Hecken: „Jens Spahn hat schon viele Störfeuer entfacht“

Der Vorsitzende des Gemeinsamen Bundesausschusses, Josef Hecken, über Fettabsaugung als Kassenleistung, Apps auf Rezept und Globuli. Ein Interview

Josef Hecken (60) leitet seit 2012 den Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA), das höchste Gremium der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen, vorher war er Staatssekretär im Familienministerium. Im Interview wirft Hecken Gesundheitsminister und Parteifreund Jens Spahn (CDU) vor, mehr auf öffentlichkeitswirksame Aktionen zu setzen als auf medizinische Evidenz. Und schlägt ein neues Genehmigungsverfahren bei ethisch umstrittenen Behandlungsmethoden vor.

Herr Hecken, Jens Spahn hat in letzter Zeit wenig Begeisterung für die Selbstverwaltung erkennen lassen. Gerade hat er versucht, sich per Gesetz ein Recht zuschreiben zu lassen, über Ihren Kopf hinweg Kassenleistungen zu definieren. Was halten Sie davon?
Als Minister hat Jens Spahn schon viele Störfeuer in der Gemeinsamen Selbstverwaltung entfacht. Das geht an den Kern des Systems der gesetzlichen Krankenversicherung. Der GBA trifft Versorgungsentscheidungen nach Beweislage, also Evidenz, und nicht nach dem Wunsch, möglichst großen Bevölkerungsgruppen einen Gefallen zu tun. Der Minister hat zunächst versucht, per Erlass die Fettabsaugung bei Lipödem einzuführen. Später wollte er die Fachaufsicht über den GBA, auch damit ist er gescheitert. Damit kein falsches Bild entsteht: Ich bin mit Spahn befreundet, wir tauschen uns aus. Ich denke, dass er jetzt seine Energie auf andere Bereiche richten wird und nicht mehr dafür kämpft, evidenz- durch eminenzbasierte Entscheidungen zu ersetzen, die ihm politisch opportun erscheinen.

Seinen Vorstoß, die Fettabsaugung zur Kassenleistung zu machen, hat Spahn mit den langen Beratungsprozessen im GBA begründet, wo sich Ärzte, Kliniken und Krankenkassen oft gegenseitig blockieren. Hatte er damit nicht Recht?
Ja, es stimmt, dass die Bänke im GBA – also Kliniken, niedergelassene Ärzte und gesetzliche Krankenversicherung – je nach Interessenlage Beratungen immer wieder unnötig in die Länge ziehen, weil sie den Status quo bewahren wollen. Daher begrüße ich es sehr, wenn Bewegung in die Verfahren kommt. Künftig wird es so sein, dass die drei Unparteiischen einen eigenen Vorschlag vorlegen, wenn es nach zwei Jahren Beratungszeit kein Ergebnis gibt. Wenn die Bänke den nicht annehmen, kann der Minister eine eigene Richtlinie, eine Ersatzvornahme, machen. Das wird sicher eine gewisse Beflügelung der Beratungsprozesse erzeugen.

Im Streit um die Fettabsaugung hat die Methode Spahn ja schon mal geklappt. Der GBA hat vor kurzem einen Beschluss gefasst, wonach die Leistung nun für bestimmte Patientinnen gezahlt wird. Als Begründung wurde ausdrücklich auch der Druck des Ministeriums genannt.
Der Minister hat behauptet, diese Operationen würden überall gezahlt, nur der GBA kriege es für Deutschland nicht hin. Das stimmt so nicht. Nach meiner Kenntnis übernehmen die Kassen außer in Luxemburg im europäischen Ausland diese Leistung nicht. Sicher, unsere Beratungen dauerten lange, weil es keine Studien gibt, deshalb haben wir im Januar 2018 ja die Erprobung der Methode beschlossen, die jetzt anläuft, und im September den Einschluss der Liposuktion für Patientinnen mit einem Lipödem im Stadium Drei. Der Beschluss hat detaillierte Qualitätsanforderungen, weil es keine einzige Fachgesellschaft gab, die in der Anhörung gesagt hat, es gebe einen gesicherten Nachweis für den Nutzen der Fettabsaugung beim Lipödem. Die Beschränkung auf eine kleine, besonders betroffene Patientinnengruppe ist deshalb richtig. Spahn hat die Zahl der Frauen wohl auch erheblich überschätzt – nicht aber die Größe der Schlagzeilen, die ihm solch ein Vorschlag bescheren würde.

Ist Spahn ein Populist?
Er schaut jedenfalls immer genau danach, ob und wie Initiativen öffentlich ankommen. Spahn agiert planvoll, und oft bewegt er damit viel – insofern ist die Bezeichnung auch anerkennend gemeint. Aber er geht stellenweise mit einer noch nicht dagewesenen Chuzpe vor. Seine Vorgänger im Amt haben natürlich auch versucht, Entscheidungen in eine bestimmte Richtung zu bewegen. Sie haben sich aber nicht in dieser Weise einzelne Themen herausgepickt und „bespielt“.

Würden Sie sich bei manchen Themen nicht eine stärkere Einmischung der Politik wünschen? Im Streit darüber, ob die Kassen einen Bluttest auf Trisomie 21 bezahlen sollen, haben Sie eigens an die Parlamentarier appelliert, diese hochethische Frage politisch zu klären...
Für die damit verbundenen ethischen Debatten ist der GBA definitiv der falsche Ort: Wir prüfen technisch-medizinisch Verfahren und Methoden, können aber nicht fundamentale gesellschaftspolitische Grundfragen entscheiden. Als der Hersteller die Bewertung des Tests für die Kassenerstattung beantragte, habe ich den Gesundheitsausschuss umgehend gebeten, sich mit den damit verbundenen ethischen Fragen zu befassen. Das hat er dann in Form einer orientierenden Debatte auch getan – aber dabei ist es bis jetzt geblieben. Der Bluttest auf Trisomien ist die ungefährlichere Variante einer invasiven Methode, der Fruchtwasserpunktion, die bei Risikoschwangerschaften schon seit 30 Jahren Kassenleistung ist. Aber was ist, wenn es bald andere Tests gibt, bei denen es noch keine solche „Vorentscheidung“ gab? Dazu wäre eine Äußerung des Parlaments hilfreich, auf die sich der GBA dann beziehen könnte. Zum möglichen Verfahren habe ich im Gesundheitsausschuss gerade einen Vorschlag gemacht.

Was für einen?
Sollte ein Antrag auf Methodenbewertung eines neuen Untersuchungsverfahrens im GBA eingehen, bei dem das Gendiagnostikgesetz berührt ist, würde ich den Bundestag bitten, sich innerhalb von zwei Jahren dazu zu äußern. Tut er dies nicht, unterstelle ich eine Zustimmung zu dem Bewertungsverfahren, das dann nach den üblichen Regeln ablaufen würde.

Ein großes Vorhaben des Ministers wird diese Woche wohl vom Bundestag verabschiedet: das Digitale-Versorgungs-Gesetz. Es soll unter anderem Apps auf Rezept ermöglichen – und zwar, ohne dass diese Applikationen vorher auf ihren Nutzen bewertet werden. Was halten Sie davon?
Der Minister nennt diese Vorgehensweise ein „Fast-Track“-Verfahren – „quick and dirty“ würde ich es nennen. Bevor die Apps in die Erstattung kommen, müssen sie immerhin vom Bundesinstitut für Arzneimittelsicherheit und Medizinprodukte geprüft werden. Ich bin froh, dass dem GBA diese Aufgabe nicht übertragen wurde, auch wenn das einige Politiker fordern. Es wird jetzt aber viel davon abhängen, wie das Prüfverfahren genau ausgestaltet wird. Unabdingbar dabei ist: Wer etwas zu Lasten der Krankenkassen verordnungsfähig machen will, muss offenlegen, auf welcher Leitlinie etcetera der Algorithmus einer Anwendung basiert und wie die Funktionalität bereits in der Versorgung getestet wurde. Alles andere wäre verantwortungslos gegenüber den Patientinnen und Patienten. Die alleinige Tatsache, dass eine Diagnostik oder Behandlung auf digitaler statt analoger Grundlage basiert, stellt eben nicht automatisch eine Verbesserung der Versorgung dar. Nach der letzten Anhörung im Gesundheitsausschuss bin ich mir aber leider nicht so sicher, ob dies das gemeinsame Verständnis ist.

Homöopathie dagegen wird von vielen gesetzlichen Kassen erstattet, obwohl evident ist, dass sie nicht wirkt – vom Placeboeffekt abgesehen. Spahn will das Thema nicht anrühren, weil die Kosten nicht ins Gewicht fielen. Ist das der richtige Weg?
Es geht mir hier weniger um die Kosten, sondern es geht um die Botschaft, die von der Kassenerstattung ausgeht: Die Menschen gehen davon aus, dass das automatisch Wirksamkeit bedeutet. Und wenn wir den Globuli der Homöopathen diesen Anschein geben, dann kann das im Einzelfall sehr gefährlich werden. Krebspatienten, die auf eine Therapie verzichten und stattdessen auf solche Zuckerkügelchen setzen, gab und gibt es immer wieder. Das kann man nicht ignorieren, nur weil es nicht viel kostet. Hier wünsche ich mir den Einsatz, den Jens Spahn bei anderen Themen zeigt. Nur leider kann man – und das weiß der Minister – mit einem rigideren Kurs bei der Homöopathie nicht so viele Sympathien gewinnen.

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