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Viele Arbeitnehmer sind gestresst und erschöpft.

© Gift Habeshaw/unsplash

Gestresst und erschöpft: Wie es um die Psyche der Beschäftigten steht

Viele Menschen sind überarbeitet, werden psychisch krank. Die mentale Gesundheit wird zwar offener diskutiert als früher – bleibt aber ein Problem.

Ohrgeräusche, Schwindel, Bauchweh, immer wieder geht er zum Arzt. Immer wieder wird keine Ursache gefunden. Wie sein Job ist? Den mag Alfred G. eigentlich, vor allem jetzt, wo er befördert wird, doch die Tage häufen sich, an denen er müde ist, unkonzentriert, denkt, alles sei zu viel. Ein Jahr vergeht, das zweite, und mit dem wird das Einschlafen schwer. Alfred G. beginnt mit dem Trinken. Will am liebsten nur noch liegen. Nach zwei Jahren schickt ihn der Hausarzt zum Psychologen: Burnout-Syndrom.

Umfragen und Studien zeigen seit Jahren, dass es vielen Menschen in Deutschland psychisch nicht gut geht. Sei es wegen privater Sorgen, Pflichten, Stress bei der Arbeit. Oder allem. Im vergangenen Jahr waren seelische Erkrankungen die dritthäufigste Ursache für die Unfähigkeit zu arbeiten – und die zweithäufigste dafür, früher in den Ruhestand zu gehen. Die deutsche Wirtschaft kostet das jedes Jahr mehr als 20 Milliarden Euro. Die Betroffenen leiden enorm und warten mehrere Monate, bis sie überhaupt ein Erstgespräch bei einem Therapeuten bekommen. Burnout wird als Krankheit dieser Zeit bezeichnet.

Das Umfrageinstitut Civey hat nun für den Tagesspiegel Tausende Erwerbstätige gefragt, wie gestresst sie sich fühlen, wie oft sie Überstunden leisten müssen und sich wegen psychischer Probleme haben krankschreiben lassen. Ob sie sich ihrem Vorgesetzten anvertrauen würden und ob es in ihrem Unternehmen Angebote und Maßnahmen gibt, um Stress zu reduzieren und eine Dauererschöpfung zu verhindern. Die fünf Fragen haben jeweils zwischen 2507 und 2542 Frauen und Männer beantwortet. Sie zeigen: Es verändert sich etwas – allerdings noch nicht genug. Die mentale Gesundheit ist zwar nicht mehr so ein Tabuthema wie es das lange war. Hemmungen gibt es jedoch weiterhin.

Vielleicht ändert sich alles mit der neuen Generation von Mitarbeitern. Rund neun Millionen Menschen in Deutschland sind um die Jahrtausendwende geboren und zwischen 15 und 24 Jahre alt. Was Soziologen über die sogenannte Generation Z erzählen? Sie wollen einen sicheren Job, den sie als sinnvoll empfinden, und der genug Zeit für anderes lässt. Beruf und Freizeit sollen getrennte Welten sein. Familie und Kinder vor der Karriere. Keine Überstunden! Kein Stress! Kein Krankschuften! Das Leben soll schön sein. Wahrscheinlich wird das vielen Chefs nicht gefallen. Wegen des demografischen Wandels haben sie aber keine andere Wahl als sich anzupassen.

Und was macht die Politik? Die Bundesregierung hat in einem Bericht „über den Stand von Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit“ zwar selbst den Satz geschrieben: „Mittlerweile ist unstrittig, dass psychische Belastungen mit dem Wandel der Arbeitswelt zunehmen.“ Bislang sieht sie aber die Unternehmer in der Pflicht, nicht sich selbst. Dass die Regierung „einfach schulterzuckend auf die Arbeitgeber verweist“, bezeichnet Annelie Buntenbach, Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes als „eine Frechheit“.

Dauerstress macht krank - auch psychisch

35 Prozent der Befragten fühlen sich durch die Atmosphäre bei ihrer Arbeit gestresst. 33 Prozent empfinden eher nicht so, nur 20 Prozent niemals. Auch andere Umfragen und Studien kommen regelmäßig zu dem Schluss, dass ein erheblicher Teil der Deutschen in seinem Job unter Druck steht und sich mitunter am Limit seiner Leistungsfähigkeit sieht.

Natürlich findet Stress auch im Privatleben statt. Die Arbeit ist dennoch ein zentraler Faktor. Gründe gibt es dort zuhauf: viele Aufgaben, die in kurzer Zeit und am besten gleichzeitig erledigt werden müssen – auch wegen fehlendem Personal. Kaum zu erfüllende Erwartungen können hinzukommen, ständige Unterbrechungen, Konflikte, überlange Tage im Büro. Die Digitalisierung verstärkt einige Stressfaktoren: Technik beschleunigt Abläufe. Permanent Reize, Informationen, Benachrichtigungen. Es gibt kaum noch Pausen in der Kommunikation. Dienstliche Mails kann der Kollege auch noch vom Sofa aus beantworten. Selbst wenn es spät am Abend ist.

Durch all das fehlen dem Menschen wichtige Erholungsphasen. Was sich unter anderem in einer gereizten Stimmung, Rückenschmerzen und Schlafstörungen widerspiegeln kann. Eine stressige Phase ist belastend, aber meist machbar. Dauerstress macht jemanden jedoch krank und begünstigt körperliche wie psychische Erkrankungen.

Nicht umsonst erwähnte der Psychologe Herbert Freudenberger 1974 erstmals das Wort „Burnout“. Damit meinte er den Zusammenbruch aufgrund von Überarbeitung. Lange wurde der Begriff bloß belächelt. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat Burnout in diesem Jahr aber offiziell als ein Syndrom eingestuft. Es entstünde durch chronischen Stress im Berufsleben, der nicht erfolgreich verarbeitet wird – und könne der Gesundheit enorm schaden.

Die Deutschen leisten Milliarden Überstunden

16 Prozent müssen nie Überstunden machen, um ihr Arbeitspensum zu schaffen. Das heißt: 84 Prozent schon. Fast ein Drittel der deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer muss selten länger bleiben, mehr als jeder Dritte häufig bis sehr häufig. Eine Mail musste unbedingt noch raus, ein Projekt beendet werden, Meetings waren so lang, dass die eigentliche Arbeit noch wartet. In Spitzenzeiten mal mehr zu schuften, ist noch kein Problem. Aus Expertensicht sind aber Grenzen wichtig. Wenn solche Situationen ungewollt zur Normalität werden, droht die Balance zwischen Arbeits- und Privatleben aus dem Gleichgewicht zu geraten – und das hat oftmals zwischenmenschliche oder gesundheitliche Folgen.

Im vergangenen Jahr haben die Deutschen rund 2,2 Milliarden Überstunden geleistet – eine davon ohne bezahlt zu werden. Damit haben sie den Unternehmen quasi 25 Milliarden Euro geschenkt. Das sagte vor Kurzem der Leiter des Pestel-Instituts, Matthias Günther, als er den sogenannten Überstunden-Monitor vorstellte. Kerstin Tack, arbeitsmarkt- und sozialpolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion, kommentierte: „Es kann nicht sein, dass Arbeitgeber die Beschäftigten um ihren Lohn betrügen.“ Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs, Arbeitszeiten verpflichtend aufzuzeichnen, müsse aus ihrer Sicht so schnell wie möglich in nationales Recht umgesetzt werden.

Der globale Personaldienstleister ADP hat in diesem Jahr 10 000 Arbeitnehmer in einer Reihe großer europäischer Volkswirtschaften zu ihrem Arbeitsalltag befragen lassen. Mit dem Ergebnis: Nirgendwo leisten Beschäftigte so viele unbezahlte Überstunden wie in Deutschland. Dies deute darauf hin, „dass Arbeitgeber auch heute noch unrealistische Erwartungen an die Arbeitnehmer stellen“, heißt es im Fazit der Studie.

Ängste ersetzen das Reizdarmsyndrom

23 Prozent haben sich schon einmal wegen psychischer Beschwerden krankschreiben lassen – 75 Prozent noch nicht. In den vergangenen 20 Jahren hat sich die Zahl der Krankschreibungen aus diesem Grund mehr als verdreifacht. Zu diesem Befund kommt eine Langzeituntersuchung der Krankenkasse DAK-Gesundheit. Demnach fiel jeder Versicherte wegen seelischer Leiden vor 1997 im Schnitt 0,7 Tage aus. 2017 waren es 2,5 Tage. Im vergangenen Jahr ging die Zahl der Fehltage nach stetigem Anstieg erstmals wieder leicht zurück. Trotzdem fehlte jeder 18. Arbeitnehmer aus mentalen Gründen im Job. Hochgerechnet wären das 2,2 Millionen Menschen gewesen. Psychische Beschwerden lagen damit bundesweit auf dem dritten Platz der Krankheitsarten. Meistens geht es um Depressionen. Gefolgt von Anpassungsstörungen, die nach schweren Schicksalsschlägen oder einschneidenden Veränderungen auftreten, neurotische Störungen und schließlich Angststörungen.

Linke, Grüne und Gewerkschaften verweisen auf den extremen Stress im Job. „Wir müssen Rahmenbedingungen schaffen, die eine gesunde Lebensweise und Zeiten des Miteinanders ermöglichen und Arbeitsprozesse entschleunigen“, sagt Maria Klein-Schmeink, Grünen-Sprecherin für Gesundheitspolitik. DAK-Vorstandschef Andreas Storm führte die Entwicklung allerdings auch auf einen offeneren Umgang zurück: „Vor allem beim Arzt-Patienten-Gespräch sind psychische Probleme heutzutage kein Tabu mehr.“ Tatsächlich gingen Fehltage wegen anderer Diagnosen seit dem Jahr 2000 zurück. Experten berichten von einer Diagnose-Verlagerung hin zu psychischen Störungen. Beispiele dafür sind das Reizdarmsyndrom oder Rückenschmerzen, die inzwischen auch auf seelische Belastung zurückzuführen sind.

Vertraue ich meinem Chef? Ist er empathisch?

40 Prozent könnten es ihrem Chef nicht mitteilen, wenn sie sich psychisch schlecht fühlen oder sind sich dessen nicht so sicher. Fast sechs von zehn Befragten glauben hingegen schon, dass sie sich an ihre Vorgesetzte oder ihren Vorgesetzten wenden könnten. Dass die Mehrheit keine Angst davor hätte, zeigt, dass psychische Probleme und Erkrankungen längst nicht mehr so ein Tabuthema sind wie sie es einmal waren. Sicherlich werden sich die meisten Beschäftigten dennoch vorher fragen: Glaube ich, verstanden zu werden? Bekäme ich Unterstützung, oder könnte es womöglich Nachteile für mich geben, weil ich gerade nicht so leistungsstark bin wie andere? Ob jemand offen mit einer Krise umgehen kann, ist letztlich eine Frage des Vertrauens, der Führungs- und Unternehmenskultur. Ist mein Chef empathisch oder nicht? Interessieren nur Zahlen oder auch die Menschen im Betrieb?

„Messbare Faktoren wie geringe Fluktuation und geringe Krankenstände müssen Teil meiner Unternehmensziele sein“, meint Bertolt Meyer, Professor für Organisations- und Wirtschaftspsychologie an der Technischen Universität Chemnitz. „Was nicht gemessen wird, ist auch nicht wichtig in der Wirtschaft.“ Gesund führen bedeutet außerdem, die Belastungsgrenzen der Beschäftigten zu kennen und die eigenen. So belegen wissenschaftliche Studien, dass Vorgesetzte, die selbst auf ihre Gesundheit achten, auch eher die Gesundheit ihres Teams fördern. Wer sich selbst permanent überlastet, animiert eher zum Nachahmen. Doch selbst wenn der Wille da ist: Unternehmer und Teamleiter wissen oft noch zu wenig über die Psyche und erste Anzeichen einer Erkrankung. Zwar gibt es einen steigenden Bedarf nach konkreten Angeboten wie Broschüren mit Fragebögen, Workshops, Seminaren. Trotzdem bleibt hierzulande noch vieles unentdeckt und unausgesprochen.

Nur wenige Unternehmen haben ein Konzept

70 Prozent geben an, dass ihr Arbeitgeber keine Kurse oder Maßnahmen anbietet, um Stress zu reduzieren – oder wissen es nicht (zwölf Prozent). Nicht einmal jeder Dritte bejahte die Frage. Die Gewerkschaften beobachten die fehlenden Hilfestellungen mit großer Sorge und fordern seit Jahren eine Anti-Stress-Verordnung – was die Bundesregierung bislang abgelehnt hat. Anders als bei Gefahrstoffen, Lärm oder mangelnder Beleuchtung fehlen bei psychischen Belastungen klare Anforderungen an Unternehmen. Eigentlich verpflichtet das Arbeitsschutzgesetz seit 2013 dazu, zumindest eine Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung durchzuführen. Das tun aber nur wenige.

Was sonst gemacht wird? Großbetriebe bieten zum Beispiel „Employee Assistance Programs“ an. Ein niederschwelliges Angebot, mit dem Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die Möglichkeit haben, bei Problemen jeglicher Art einen ersten Ansprechpartner zu kontaktieren. Das schwäbische, global tätige Industrieunternehmen Wieland hat eine psychosomatische Sprechstunde eingerichtet, und die Beschäftigten können eine Kurzzeittherapie bei psychischen Problemen machen. Andere Betriebe organisieren Seminare zu Stressbewältigung, Achtsamkeit und Resilienz, also seelischer Widerstandskraft. Bei Siemens berichten Mitarbeiter, auch leitende, in Videointerviews über selbst erlebte psychische Belastungen und Erkrankungen. In einem eLearning-Tool erleben Führungskräfte außerdem spielerisch die Auswirkungen ihres eigenen Verhaltens – ob sich eine Person verschließt oder sich öffnet. Zu jeder Dialogsequenz gibt es dann ein fachliches Feedback.

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