zum Hauptinhalt
Bilder statt Wörter entschlüsseln. Auch mit Lese-Rechtschreib-Schwäche kann man Mediziner werden.

© Superbild

Gehandicapt: Da geht was

Etwa fünf von 100 Menschen haben Legasthenie. Kein Grund, deshalb nicht Arzt, Ingenieurin oder IT-Experte zu werden.

Vermutlich müssen Sie sich nicht besonders stark konzentrieren, wenn Sie diesen Satz lesen. Für viele Menschen mit Legasthenie ist das anders. Ihnen fällt es schwer, Texte zu lesen oder zu schreiben.

Oft ist das bereits in der Schule Thema. Kinder- und Jugendpsychiater können ab Mitte der zweiten Klasse eine gesicherte Diagnose stellen. „Das ist so wichtig, damit man die richtige Förderung bekommen kann. Außerdem hat man nur mit einer Diagnose gesetzlichen Anspruch auf einen Nachteilsausgleich und kann so seine Beeinträchtigung kompensieren“, sagt Annette Höinghaus vom Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie.

Sie fügt hinzu: „Wenn sich Betroffene dann nicht mehr so viele Sorgen um das Erfassen der Texte machen müssen, können sie sich wirklich auf die Inhalte und Themen konzentrieren und herausfinden, worin sie richtig gut sind und was ihnen Spaß macht.“

IM JOB ZÄHLEN VIELE ANDERE DINGE

Da Legasthenie nichts mit Intelligenz oder fachlicher Kompetenz zu tun hat, könnten Betroffene jeden erdenklichen Beruf wählen, so Höinghaus. „Es gibt Ärzte, Rechtsanwälte, Professoren und Journalisten mit Legasthenie. Man sollte sich nicht von Negativerfahrungen in der Schule demotivieren lassen.“

In der Arbeitswelt selbst kommen Menschen mit Legasthenie dank neuer Technologien oft hervorragend klar. „Jeder Computer hat ein Rechtschreibprogramm. Auch werden Spracherkennungssoftwares immer besser, denen man Texte einfach diktieren kann“, sagt Höinghaus. „Für diejenigen, die Probleme haben beim Lesen , gibt es zudem auch tolle Programme, die Texte vorlesen.“

Leute-Newsletter: [Behalten Sie den Überblick über die Corona-Entwicklung in Ihrem Berliner Kiez. In unseren Tagesspiegel-Bezirksnewslettern berichten wir über die Krise und die Auswirkungen auf Ihre Nachbarschaft. Kostenlos und kompakt: leute.tagesspiegel.de.]

GLEICHE CHANCEN IN DER AUSBILDUNG

Bleibt der Weg dorthin. Sowohl für die duale Ausbildung als auch an Hochschulen und Unis gibt es Regelwerke und Leitlinien, die sicherstellen sollen, dass Betroffene dieselben Chancen wie die anderen Azubis und Studierenden haben.

Kirsten Vollmer arbeitet im Bundesinstitut für Berufsbildung und hat mit einer Kollegin ein Handbuch zum Thema Nachteilsausgleich bei behinderten Auszubildenden erarbeitet. Sie sagt: „In den letzten Jahren hat sich erfreulich viel verändert. Die Betriebe sind sehr offen und interessiert – vor allem in den Bereichen, in denen Fachkräftemangel besteht. Auch die Kammern und Innungen haben mittlerweile das Thema mehr als früher auf der Agenda.“

IN PRÜFUNGEN SIND HILFEN ERLAUBT

Um in Prüfungssituationen Chancengleichheit mit Azubis ohne Legasthenie herzustellen, gebe es viele Möglichkeiten. Die Zeit könne verlängert werden, es könnten Hilfsmittel wie ein Wörterbuch oder eine Software erlaubt, schriftliche Aufgaben vorgelesen werden. Zudem könne eine schriftliche Prüfung als mündliche abgehalten werden. Vollmer erklärt: „Es ist gesetzlich vorgeschrieben, dass Menschen mit einer Behinderung wie Legasthenie ein Nachteilsausgleich zusteht. Es ist aber nicht definiert, wie dieser Ausgleich konkret auszusehen hat.“

DIE KAMMER ENTSCHEIDET

Und das ist auch gut so: Denn jeder Mensch mit Legasthenie hat ganz individuelle Probleme und Bedürfnisse. So kann es dem einen helfen, mehr Zeit zu bekommen, der anderen hingegen bringt das gar nichts.

Ob ein Nachteilsausgleich gewährt wird und wie dieser auszusehen hat, entscheidet in einer Ausbildung die zuständige Kammer. Die fachlichen Anforderungen der Prüfung bleiben selbstverständlich gleich. Vollmer empfiehlt, so früh wie möglich, spätestens aber bei der Prüfungsanmeldung, gut begründete Vorschläge für den gewünschten Nachteilsausgleich miteinzureichen.

„Diese Empfehlungen können vom Facharzt kommen, der auch das Gutachten schreibt, von der Berufsschule oder dem Ausbildungsbetrieb. Auf dieser Grundlage kann die Kammer dann ihre Entscheidung treffen.“

DER AUSGLEICH STEHT NICHT IM ZEUGNIS

Ähnlich sieht die Situation an Hochschulen und Unis aus. Sandra Mölter leitet die Kontakt- und Informationsstelle für Studierende mit Behinderung und chronischer Erkrankung der Uni Würzburg. Sie sagt: „Sechs Prozent aller Studenten in Deutschland haben Legasthenie. Durch Nachteilsausgleiche und die Möglichkeit einer Studienassistenz sollen sie ihr Studium genauso gut abschließen können wie ihre Kommilitonen.“ Auf dem Zeugnis der Universität darf ein Nachteilsausgleich dann nicht vermerkt werden.

Dasselbe gilt für das Abschlusszeugnis der dualen Ausbildung, das die zuständige Kammer ausstellt. dpa

Sophia Reddig

Zur Startseite