zum Hauptinhalt
Entlastung für die Handelsschifffahrt. Wenn die Seenotzentrale in Rom Hilferufe von einem Flüchtlingsboot auffängt, beauftragt sie jetzt vornehmlich die deutsche Fregatte „Hessen“ oder den Einsatztruppenversorger „Berlin“ mit der Rettung.

© Sascha Jonack/dpa

Flüchtlinge im Mittelmeer: Traumatisierte Seeleute sind mit Rettungsaktionen überfordert

Häufig haben in den vergangenen Monaten Handelsschiffe Flüchtlinge aus dem Mittelmeer gerettet. Viele Matrosen sind traumatisiert. Nun schlagen die Reeder Alarm.

Es ist wieder ruhiger geworden für die Handelsschiffe im Mittelmeer. Sie bleiben auf ihrem Kurs, keine Notrufe stören den Alltag an Bord. Das liegt vor allem an der Entscheidung der Bundesregierung, zwei Marineschiffe in das Krisenmeer zu beordern. Wenn das Maritime Rescue Coordination Centre (MRCC) in Rom, die zuständige Seenotzentrale, Hilferufe von einem Flüchtlingsboot auffängt, beauftragt es mit der Rettung vornehmlich die dort seit zwei Wochen kreuzende deutsche Fregatte „Hessen“ oder den Einsatztruppenversorger „Berlin“.

Das war die gute Nachricht, die der Geschäftsführer des Verbands der deutschen Reeder Ralf Nagel am Mittwoch dem Bundestagsausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur überbringen konnte. Aber damit hatte sich sein Anliegen nicht erledigt, denn, so Nagel nach dem Gespräch: „Es ist uns klar, dass das nicht aufhört.“ Darum war eines seiner Anliegen die Bitte, den Marineeinsatz über die angekündigten 30 Tagen hinaus zu verlängern und dessen Einsatzgebiet über die Triton-Zone hinausreichen zu lassen.

„Triton“ heißt jene Operation, die im Anschluss an die italienische „Mare Nostrum“ startete, aber hauptsächlich Grenzschutz vor den europäischen Küsten betreibt, während sich die großen Flüchtlingsdramen weiter südlich abspielen.

Ralf Nagel. Geschäftsführer des Verbands der deutschen Reeder.
Ralf Nagel. Geschäftsführer des Verbands der deutschen Reeder.

© Kai-Uwe Heinrich

Dass da eine furchtbare Aufgabe auf die Handelsschifffahrt zukommen würde, war den meisten Reedern in dem Moment klar, in dem die italienische Mare-Nostrum-Mission endete: genau am 31. Oktober 2014. Von da an funkte das MRCC bei Notfällen die Tanker, Frachter und Containerschiffe an, die draußen im Meer unterwegs waren – und das kam oft vor: Für 2014 wurden insgesamt 800 Rettungseinsätze von Handelsschiffen gezählt, bei denen mehr als 40 000 Menschen aus Seenot geborgen wurden. Und so ging es nach dem Jahreswechsel weiter. Allein deutsche Schiffe retteten in den ersten Monaten dieses Jahres mehr als 5000 Flüchtlinge aus dem Meer.

Was sich für die Statistik in drögen Zahlen darstellen lässt, führte an Bord der zur Rettung abkommandierten Schiffe zu Szenen, die für einzelne Seeleute so weit das Maß des Aushaltbaren überschritten, dass sie den Dienst quittierten.

Auch die Berichte über die Rettungsaktionen gibt es in zwei Ausführungen. Zum einen die nüchternen Protokolle an die Reederei, die minutiös den zeitlichen Ablauf vom Empfang des MRCC-Rufs bis zum Punkt „all refugees off“ („alle Flüchtlinge von Bord“) im sicheren EU-Hafen auflisten. Und zum anderen die teils bewegenden E-Mails, die von den Seeleuten – meist von den Philippinen oder aus Polen stammend – selbst an die Reederei geschickt wurden.

Viele Menschen sterben - die Crews sind überfordert

Aus diesen Quellen fügte sich in der Hamburger Zentrale des Deutschen Reederverbands seit Jahresbeginn ein schauriges Bild zusammen. Es zeigte Crews, teils nur knapp ein Dutzend Mann, die mehrere hundert Flüchtlinge an Bord holten, denen sie dann ratlos gegenüberstanden. Unterkühlte, verzweifelte Menschen, mit denen sie sich nicht verständigen konnten, die sichtbar krank waren, vielleicht ansteckend. Die aggressiv und aufgeregt waren und vielleicht bewaffnet. Manche drängelten – vielleicht nur auf der Suche nach Unterschlupf und Wärme – bis zur Brücke, wo sie auf keinen Fall Zutritt hatten. Oder sie wollten in den ebenfalls verbotenen Maschinenraum. Manchmal starben die Menschen auch, kaum dass sie an Bord waren, weil sie die strapaziöse Bergung nicht mehr ausgehalten hatten. Manche ertranken vor den Augen der Seeleute, weil sie nicht schwimmen konnten – zum Beispiel Eltern, die ihren Kindern ins Meer hinterhergesprungen waren. „Was sich da an Bord abgespielt hat, das kann man sich nicht vorstellen“, sagt Ralf Nagel.

Am Mittwoch in Berlin ergänzte er das um einen arbeitsrechtlichen Aspekt: Die deutschen Reeder seien als Arbeitgeber für Schutz und Sicherheit ihrer Crews zuständig. Und die Defizite der europäischen Flüchtlingspolitik seien bisher vor allem zu ihren Lasten gegangen. Allerdings gebe es wegen des weitgehenden Versicherungsschutzes in der Handelsseefahrt noch keine finanziellen Probleme, etwa durch die außerplanmäßigen Rettungseinsätze, die langen Umwege, den tonnenweisen Mehrbedarf an Treibstoff und bisweilen verpasste Anschlussaufträge. Auch die Mehrausgaben für medizinisches Material oder die Goldfolien, mit denen unterkühlte Personen umwickelt werden, seien überschaubar.

Neuer Leitfaden für große Notfälle

Als Reaktion auf die zunehmende Zahl von Rettungseinsätzen durch Handelsschiffe wurde in Absprache mit dem UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR schon im vergangenen Jahr der Leitfaden für Seenotfälle um das Kapitel Großnotlagen erweitert. In Hamburg lud der Reederverband betroffene Unternehmen kürzlich zum Erfahrungsaustausch. Es ging um Grundsätzliches: Wie kann die Crew eines Schiffes zum Beispiel für friedliche Stimmung an Bord sorgen? Wie können die Seeleute den Geretteten klarmachen, dass ihnen nichts geschehen wird? Schokolade und Spielzeug für die Kinder hätten sich als besonders wirkungsvoll erwiesen, sagt Nagel.

Aktuell arbeitet der Reederverband an einem weiteren Leitfaden für medizinische Fragen, da auf Handelsschiffen kein Arzt mitfährt. Anders als auf Marineschiffen, auf denen bis zu 50 Experten zusätzlich an Bord seien – Übersetzer, Psychologen und Pfarrer. In Seenot geratene Flüchtlinge können nur hoffen, auf diese „Superretter“ zu treffen. Wenngleich sie auf ihrer langen Reise dann noch nicht das Ziel erreicht haben.

Zur Startseite