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Weil der Markt für IT-Kräfte leergefegt ist, schaffen Konzerne ihre eigenen Ausbildungsprogramme.

© Getty Images/iStockphoto

Fachkräftemangel: Wie sich Unternehmen ihren eigenen IT-Nachwuchs heranziehen

In teuren Programmen bilden Konzerne maßgeschneiderte Softwareentwickler aus. Denn aus den Hochschulen kommen zu wenige nach.

Von Laurin Meyer

Mit den Hörsälen mancher Hochschulen haben diese Unterrichtsräume nicht viel gemein: Auf jedem Platz steht ein eigener Computer, an den Wänden hängen moderne Flachbildschirme. Und wer einen langen Lerntag vor sich hat, kann sich aus der angeschlossenen Kaffeeküche einen Energydrink holen. Im „Mobile Life Campus“ in Wolfsburg gibt es zwölf solcher Unterrichtsräume. Das Gebäude gehört Volkswagen. Und dass hier vieles anders ist als an Universitäten, gehört zum Konzept. Hier zieht der Konzern seinen IT- Nachwuchs heran – und zwar passgenau, ganz nach den speziellen Bedürfnissen.

Vor etwa einem Jahr hat VW damit begonnen, eigene Softwareentwickler auszubilden. Jetzt ist der zweite Jahrgang gestartet. In der sogenannten „Fakultät 73“ lernen 100 Teilnehmer zwei Jahre lang Programmiersprachen und Echtzeitdatenverarbeitung, tüfteln in Kleingruppen an autospezifischen Projekten. „Das Programm ist sehr agil“, sagt Andreas Hartmann, Leiter für Weiterbildung IT und Digitalisierung bei Volkswagen. „Wir können deshalb schnell auf neue Anforderungen unserer Fachbereiche reagieren.“

Viel Projektarbeit steht auf dem Programm der Fakultät 73 von Volkswagen.
Viel Projektarbeit steht auf dem Programm der Fakultät 73 von Volkswagen.

© Volkswagen/Promo

Kommen Mitarbeiter mit einem neuen Thema, dann integriert es der Autobauer bei Bedarf in das Programm. Denn wer die Ausbildung durchläuft, soll im Konzern später mal in der Fahrzeugvernetzung, der Robotik oder an der Künstlichen Intelligenz für autonomes Fahren arbeiten.

Für all diese Bereiche sucht der Autobauer händeringend Softwareentwickler. Allein in diesem Jahr will VW rund 2500 IT-Experten für die neue Software-Einheit einstellen. Das Problem: Der Markt ist leer gefegt. „In den Unternehmen ist der Bedarf an IT-Fachkräften zur Zeit höher, als die Universitäten ausbilden“, sagt Hartmann.

Vor allem Softwareentwickler werden gesucht

Tatsächlich waren Ende vergangenen Jahres hierzulande 124.000 Stellen im IT-Bereich unbesetzt. Das hat der Branchenverband Bitkom gezählt. Innerhalb von zwei Jahren hat sich die Zahl mehr als verdoppelt. Auf der Wunschliste der Wirtschaft stehen vor allem Softwareentwickler, aber auch IT-Anwendungsbetreuer und Data Scientists.

Die Digitalisierung in den Unternehmen dürfte der leer gefegte Arbeitsmarkt jedenfalls bremsen. Rund 54 Prozent der Firmen sieht im Mangel an IT-Experten ein Hemmnis, um etwa datengetriebene Geschäftsmodelle aufzubauen. Eine entsprechende Umfrage veröffentlichte kürzlich das Institut der deutschen Wirtschaft (IW). Zum Vergleich: Fehlende finanzielle Mittel würden nur rund 40 Prozent der Unternehmen von datengetriebenen Geschäften abhalten.

1500 Bewerber auf 100 Plätze

An der Fakultät 73 hat VW die Anforderungen an Bewerber bewusst offengehalten. Unter den Teilnehmern sind Hochschulabsolventen, aber auch Menschen ohne Berufsabschluss, erfahrene VW-Mitarbeiter und frische Schulabgänger. Der Konzern will keine Chance verpassen, kein Talent wegen zu hoher Ansprüche verlieren. Geringe Vorkenntnisse? Mittelmäßige Zeugnisse? Kein Problem.

Auch deshalb haben in der jüngsten Runde knapp 1500 Bewerber ihre Unterlagen geschickt. „Wir wollen Leute haben, die für die Sache brennen“, sagt Hartmann. Ohnehin mache die fachliche Qualifikation nur 40 Prozent aus, 60 Prozent sei überfachlich, wie Teamfähigkeit. Entsprechend vielfältig ist der neue Jahrgang. Der älteste Teilnehmer ist 56 Jahre alt, auch ein Flüchtling ist unter den Azubis.

20 Millionen für einen Jahrgang

Das Projekt lässt sich VW einiges kosten: rund 20 Millionen Euro pro Jahrgang. Nicht zuletzt, weil der Autobauer angehende IT-Azubis mit einer attraktiven Vergütung lockt. VW-Mitarbeiter, die den Weg zurück in den Hörsaal gehen, behalten während der Weiterbildung ihre Konditionen. Wer neu hinzukommt, erhält monatlich immerhin etwas mehr als 1100 Euro. Und bei erfolgreichem Abschluss haben Absolventen eine Übernahmegarantie. Von zugesicherten Fachkräften kann der Autobauer jedenfalls nicht genug haben. In diesem Jahr hat VW die Teilnehmerzahl sogar verdoppelt. Schon im Herbst soll der dritte Jahrgang an den Start gehen.

Solche Konzernprogramme bewertet Manuel Fritsch grundsätzlich positiv. „Um den kurzfristigen Fachkräftebedarf zu beheben, sind diese Angebote sicherlich hilfreich, zumal sie stark auf die spezifische Nachfrage des Unternehmens zugeschnitten sind“, sagt der Mitarbeiter von IW Consult. „Unternehmenseigene Initiativen ersetzen in der Regel Ausbildung und Studium jedoch nicht.“

Schule bereitet kaum auf IT-Berufe vor

Damit meint Fritsch vor allem solche Programme, die Schulabgänger lediglich für eine ganz spezifische Position im Unternehmen vorbereiten wollen. „Ziel der Erstausbildung ist es ja, dass Jugendliche nicht nur zu Angelernten für einen bestimmten Bereich werden, sondern umfassendes berufliches Handlungswissen erlangen“, sagt Fritsch. Erst das mache sie fit für den Arbeitsmarkt. Davon würden auch die Unternehmen profitieren. „Denn die Anforderungen und damit die Tätigkeiten einzelner Mitarbeiter sind im ständigen Wandel“, sagt Fritsch.

Aus der Schule haben die Azubis der Fakultät 73 jedenfalls kaum IT-Kenntnisse mitgenommen. Denn das sei kein Thema gewesen. Michelle Gabriel zog vor allem die Leidenschaft fürs Zocken hierher. Die Auszubildende im ersten Jahrgang des VW-eigenen Programms hat sich schon in ihrer Kindheit gefragt: Wie ist ein Computerspiel aufgebaut? Was braucht es, um Spielfunktionen zu programmieren?

Langfristiges Ziel: ins Management

„Es ist hier nicht wie an der Uni, wo man auch Fächer belegen muss, die mit einem späteren Beruf wenig zu tun haben“, sagt die 22-Jährige. „Ich lerne hier für meine berufliche Zukunft und kann mir die Schwerpunkte selbst wählen.“ Später möchte die angehende Softwareentwicklerin am liebsten an der KI zum autonomen Fahren arbeiten. Und auch das langfristige Ziel ist klar: „Vielleicht bringt mich die Ausbildung später ins Management.“

Michelle Gabriel (links) zeigt Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) die Fakultät 73 in Wolfsburg.
Michelle Gabriel (links) zeigt Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) die Fakultät 73 in Wolfsburg.

© Volkswagen/Promo

Bloß keinen Frontalunterricht und keine Klausuren: Das hat auch die Code-University in Berlin zu ihrem Programm gemacht. Stattdessen gibt es Projektarbeiten in kleinen Teams, in denen die Studenten etwa IT-Lösungen oder Softwareideen entwickeln. Drei verschiedene Studienrichtungen bietet die private Hochschule an: Softwareentwicklung, Interaktionsdesign und Produktmanagement.

Noten spielen kaum eine Rolle

„An den Universitäten gibt es kaum Angebote für Menschen, die Softwareentwickler werden wollen“, sagt Thomas Bachem, Gründer und Kanzler der Code-University. Das Informatikstudium sei dafür jedenfalls wenig geeignet. „Wenn man einen guten Abschluss in Informatik hat, bedeutet das recht selten, dass man auch ein guter Softwareentwickler ist.“

Schon die Bewerbung an der Code- University läuft anders ab als an anderen Hochschulen. Auch hier spielen Zeugnisnoten keine Rolle. Lediglich das Abitur müssen Interessenten vorweisen können. Englischzertifikat? Braucht es nicht. Stattdessen müssen Bewerber im ersten Schritt ein paar persönliche Fragen beantworten, im zweiten Schritt folgt ein Onlinetest.

Konzerne umwerben die Absolventen

Wer sich darüber hinaus in einem Videochat behaupten kann, der wird zu den Auswahltagen nach Berlin eingeladen. Auch wenn die Code-University vieles anders macht: Einen Bachelorabschluss bekommen die Absolventen trotzdem. Die Einrichtung ist staatlich anerkannt. Für das Studium zahlen müssen Teilnehmer erst später. Ab dem ersten Job zahlen Absolventen acht Jahre lang 13,5 Prozent ihres Einkommens zurück.

Thomas Bachem ist Gründer und Kanzler der Code University in Berlin.
Thomas Bachem ist Gründer und Kanzler der Code University in Berlin.

© Mike Wolff/Tsp

Das Konzept lockt auch zahlreiche Unternehmen an. Konzerne wie Zalando, Facebook oder Porsche sind Partner der Universität. Die Firmen suchen den Kontakt zu den angehenden IT-lern, geben ihnen erste Projektaufgaben. Der Deal: Die Studenten bekommen früh einen Einblick in die Arbeit namhafter Firmen, und die profitieren wiederum von den Ideen des Nachwuchses.

Mittelständler könnten Probleme bekommen

Konkrete Übernahmevereinbarungen gibt es zwar nicht. Dafür haben sie damit schon den ersten Draht zum begehrten Fachpersonal von morgen gelegt, können sich als attraktive Arbeitgeber präsentieren. Jüngster Partner der Code-University ist Bosch. Der Autozulieferer hat im Januar zudem angekündigt, mit einem groß angelegten Qualifizierungsprogramm in den kommenden zwei Jahren nahezu 20.000 Mitarbeiter fit für die KI zu machen. Das Programm beinhaltet Trainingsformate für Führungskräfte, Entwicklungsingenieure und KI-Entwickler.

Für kleine und mittelständische Unternehmen könnten die Offerten der Konzerne jedoch zu einem Problem werden. „Sie sind häufig nicht in der Lage, mit dem teils hohen Gehaltsniveau mitzuhalten, das für qualifiziertes Personal marktüblich ist“, sagt Philip Bierbach, Geschäftsführer des Gehaltsdienstleisters „Compensation Partner“. Tatsächlich beklagen laut Bitkom-Umfrage fast drei Viertel der Unternehmen zu hohe Gehaltsvorstellungen von Bewerbern.

IT-Berater verdienen am meisten

Im Mittel verdient ein IT-Berater gegenwärtig pro Jahr fast 79.000 Euro brutto und steht damit an der Spitze der Branchenliste. Das zeigt eine aktuelle Umfrage von „Compensation Partner“. Softwareentwickler für mobile Geräte bekommen demnach 73.000 Euro, Webdesigner immerhin noch 53.000 Euro jährlich.

Und wer einen Chefposten im IT-Bereich besetzen will, der braucht ein besonders dickes Personalbudget. In Firmen mit mehr als 1000 Beschäftigten beziehen IT-Führungskräfte ein Jahresgehalt von durchschnittlich 143.000 Euro. Fehlt das Geld, müssten Firmen anders punkten, sagt Bierbach. Etwa mit besseren Homeoffice-Angeboten.

Angst davor, dass die Absolventen die teure VW-Ausbildung nutzen, um danach woanders zu arbeiten, hat Andreas Hartmann übrigens nicht. „Eine gewisse Rotation am Arbeitsmarkt gibt es immer.“ Das sei bei VW aber kein großes Thema, denn der Konzern habe viele spannende Jobs zu vergeben. Ob das die Azubis auch so sehen, wird sich 2021 zeigen. Dann verlassen die Ersten die Fakultät als fertige Softwareentwickler.

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