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Fachkräftemangel: Ohne Zuwanderung leert sich der Arbeitsmarkt

Weil ihnen Personal fehlt, müssen Betriebe mitunter Aufträge ablehnen. Der Verlust ist immens: Pro Jahr gehen dem deutschen Mittelstand 30 Milliarden Euro verloren.

Schwäbisch Hall im Spätsommer 2011. Die Kleinstadt im Südwesten Deutschlands ist Standort von rund 40 mittelständischen Maschinenbauunternehmen. Eines von ihnen ist Optima. Die Firma entwickelt Maschinen zum Abfüllen und Verpacken von Medikamenten, Lebensmitteln und Papierprodukten. Das Management des Maschinenbauers weiß schon heute, dass man in etwa drei bis vier Jahren ein Problem haben wird: Fachkräftemangel.

„Schon jetzt finden wir kaum noch gute Leute“, sagt Jürgen Schäfer, Geschäftsführer des Pharmabereichs im Unternehmen. „Wir stellen derzeit so viele neue Kollegen wie möglich ein, weil wir wissen, dass bald nicht mehr viel nachkommt.“ 100 neue Mitarbeiter haben in diesem Jahr bei Optima unterschrieben. Die Crux des Unternehmens: Es steht in einem dünn besiedelten Landstrich in Konkurrenz mit anderen attraktiven Arbeitgebern. „Jeder, der nicht rechtzeitig in Deckung geht, wird eingestellt“, scherzt Schäfer. Seine Strategien, um „sexy“ für Arbeitnehmer zu sein: flexible Arbeitszeitmodelle einführen, Kontakte zu Hochschulen suchen und Arbeitnehmer im Internet akquirieren, „um den schlimmsten demografischen Knick abzufedern“.

Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg geht davon aus, dass das Erwerbspersonenpotenzial bis 2025 um rund 3,5 Millionen Menschen schrumpfen wird. Prognosen zufolge könnten in der Region Berlin-Brandenburg bis 2015 rund 273 000 Fachkräfte fehlen, im Jahr 2030 könnten es sogar 460 000 sein. Ursachen sind sinkende Geburtenzahlen und die Abwanderung junger qualifizierter Menschen. Schon heute erleidet der deutsche Mittelstand wegen des enormen Fachkräftemangels Umsatzeinbußen von etwa 30 Milliarden Euro per annum – das geht aus der Sommerstudie 2011 des Beratungsunternehmens Ernst & Young hervor. Die Studie wird halbjährlich durchgeführt, ihr liegt eine Umfrage unter 700 mittelständischen Unternehmen in Deutschland zugrunde.

Nach Angaben von Peter Englisch, Leiter Mittelstand und Partner bei Ernst & Young, haben immer mehr Unternehmen Probleme, ihre Vakanzen rasch zu füllen: Immerhin 73 Prozent der Mittelständler berichten von Schwierigkeiten bei der Suche nach neuen Mitarbeitern. Jeder neunte bezeichnet es sogar als sehr schwierig, ausreichend qualifizierte Mitarbeiter zu finden und eine Entspannung der Lage ist nicht in Sicht: Die Mehrheit der deutschen Mittelständler (65 Prozent) erwartet, dass es in den kommenden drei Jahren (noch) schwieriger wird, geeignete Fach- und Führungskräfte zu finden. Immer mehr Unternehmen müssen Aufträge ablehnen, weil ihnen Personal fehlt. So beklagt mehr als die Hälfte der befragten mittelständischen Unternehmen (60 Prozent) Umsatzeinbußen aufgrund fehlender Fachkräfte, 15 Prozent der befragten Unternehmen berichten sogar von erheblichen Einbußen von mehr als 5 Prozent.

Laut Werner Küsters, Präsident des Berliner Bundesverbands der Dienstleistungswirtschaft, trägt jede Firma die Verantwortung für den Nachwuchs selbst: „Arbeitnehmer erwarten attraktive Arbeitsbedingungen, Vereinbarkeit von Beruf und Familie, Weiterbildung und Umschulung.“ Die Personaler sollten auch ältere Arbeitnehmer, Migranten und Menschen mit Behinderungen in ihre Rekrutierung einbeziehen.

Konkrete Bemühungen für den Zuzug qualifizierter ausländischer Arbeitnehmer sind in vollem Gange: Das Bundeskabinett verabschiedete im März das Gesetz zur Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse. Jetzt steht noch die Verabschiedung durch den Bundestag an, die voraussichtlich im Herbst erfolgt. Mit dem Gesetz soll der Berufszugang von der Staatsangehörigkeit entkoppelt werden. Zum Beispiel kann ein türkischer Arzt nach Inkrafttreten des Gesetzes bei Vorliegen der fachlichen Voraussetzungen eine Approbation erhalten. Sowohl Handwerkskammern als auch Industrie- und Handelskammern begrüßen das Zuwanderungsengagement, durch das die Bundesrepublik für ausländische Arbeitnehmer zunehmend attraktiver werde.

Nicht nur Akademiker werden in Deutschland benötigt. Händeringend wird zum Beispiel auch Pflegepersonal gesucht. Nach Berechnungen des Statistischen Bundesamtes wird die Zahl der Pflegebedürftigen in Deutschland von 2,2 Millionen auf 2,9 Millionen im Jahr 2020 auf 4,5 Millionen im Jahr 2050 ansteigen. Um den gesamten Bedarf an Pflegekräften zu decken, müssen bis zu diesem Zeitpunkt circa 800 000 Pflegekräfte zusätzlich eingestellt werden.

Seniorenheime leiden schon jetzt unter fehlenden Mitarbeitern. Damit sich das ändert, dürfen seit Mai Arbeitnehmer aus Polen, Ungarn, Tschechien, der Slowakei, Slowenien und den baltischen Staaten auch ohne spezielle Arbeitsgenehmigung in Deutschland Geld verdienen. Carsten Linnemann, Volkswirt und Mitglied des Deutschen Bundestags, gibt zu bedenken: „Selbst wenn wir das Potenzial an Zuwanderung zukünftig voll ausschöpfen sollten, werden wir das Problem des Facharbeitermangels nicht lösen, sondern höchstens lindern können.“ Das scheinen auch deutsche Personalverantwortliche so zu sehen. Nach einer Forsa-Umfrage wollen 78 Prozent der Arbeitgeber lieber die eigenen Mitarbeiter durch Weiterbildungen fördern als externe Fachkräfte anzuwerben. 71 Prozent glauben, dass Firmen, die rechtzeitig und kontinuierlich in die Weiterbildung investieren, vom Fachkräftemangel mittel- und langfristig verschont bleiben. Die Bundesregierung setzt ganz besonders auf ältere Arbeitnehmer: Sie will, dass bis 2020 gut 57 Prozent der 55- bis 64-Jährigen noch arbeiten.

Der Schaden, der durch den Fachkräftemangel verursacht wird, ist bereits heute beträchtlich, kommentiert Jens Maßmann, Managing Partner Performance & Reward bei Ernst & Young. Er wird aber in Zukunft noch deutlich steigen und sich zu einem erheblichen Problem für die deutsche Wirtschaft auswachsen.

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