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EZB-Präsident Mario Draghi am Donnerstag in Frankfurt am Main.

© dpa

EZB senkt Leitzins auf historisches Tief: Was hinter dem billigen Geld steckt

Die Europäische Zentralbank hat überraschend den Leitzins auf ein historisches Tief gesenkt. Geld ist dadurch billig zu haben - aber das freut nicht alle. Was bedeutet der finanzpolitische Schritt?

Die Börse reagierte schon mal euphorisch, Banker sind eher skeptisch. Mit ihrer Entscheidung, den Leitzins auf das Rekordtief von 0,25 Prozent zu senken, hat die Europäischen Zentralbank (EZB) ihren Krisenkurs verschärft.

Warum hat sich die EZB zu diesem Schritt entschlossen?

In den Augen von Präsident Mario Draghi hat die Europäische Zentralbank konsequent und glaubwürdig gehandelt. Im Sommer habe sie betont, dass die Leitzinsen noch für längere Zeit niedrig bleiben würden oder noch weiter sinken könnten. Die EZB werde dann handeln, wenn sich das Umfeld ändere.

Genau dieser Punkt war offenbar erreicht, als bekannt wurde, dass die Preise in der Euro-Zone im Oktober nur um 0,7 Prozent gestiegen waren, nachdem die Rate im September noch bei 1,1 Prozent gelegen hatte. Offenbar steigen auch der EZB die Preise jetzt zu langsam. Generell handelt die Notenbank nach der Vorgabe, dass die Inflationsrate unter, aber nahe bei zwei Prozent liegen soll. Dies ist das Maß für Preisstabilität und gilt als beste Basis für Wachstum und die Schaffung von Arbeitsplätzen. Steigen die Preise allerdings nur noch wenig, drohen letztlich Deflation und damit sinkende Preise. In Krisenzeiten kann dies die Abwärtsspirale verstärken, weil die Verbraucher nicht mehr kaufen in der Erwartung, dass es noch billiger wird. Das drückt die Nachfrage, verstärkt die Rezession und treibt die Arbeitslosigkeit. Draghi allerdings sieht derzeit keine generelle Deflationsgefahr. Die Preise seien nur in einigen Ländern und bei einigen Produkten rückläufig, aber nicht flächendeckend. Zum Teil sei dies aber auch erwünscht.

Hauptmotiv für die überraschende Zinssenkung war nach Ansicht von Volkswirten aber auch die nach wie vor schleppende Kreditvergabe in der Euro-Zone. Während hierzulande Unternehmen trotz der niedrigen Zinsen auch deshalb kaum Kredite nutzen, weil ihre Kassen gut gefüllt sind und sie Investitionen aus eigener Kraft stemmen können, bremsen in Griechenland, Spanien oder Portugal die im Vergleich zu Deutschland teureren Kredite sowohl Unternehmen als auch Verbraucher. Zudem halten sich die Banken dort weiter zurück, weil sie immer noch problematische Kredite und Wertpapiere in den Büchern halten. Im Schnitt nahm die Kreditvergabe an Haushalte in der Euro-Zone im Oktober nach Angaben der EZB nur um 0,3 Prozent zu, an Unternehmen war sie wie bereits seit Monaten mit 2,7 Prozent rückläufig. Diesen Trend will die EZB mit dem historisch niedrigen Leitzins nicht nur stoppen, sondern möglichst umkehren.

Volkswirten zufolge hat die EZB damit ihre Möglichkeiten weitgehend ausgereizt. Schließlich liege der Leitzins bei einem nächsten Zinsschritt in der üblichen Größenordnung von 0,25 Prozentpunkten bei Null. Draghi sieht das anders, die EZB könne weiter handeln. „Wir haben noch eine ganze Reihe von Instrumenten, die wir einsetzen können.“

Ist die Lage in den Euro-Krisenstaaten ernster als gedacht?

Darüber gehen die Meinungen auseinander. Ökonomen sehen in der südeuropäischen Peripherie durchaus Fortschritte bei den Strukturreformen und der Sanierung der Staatsfinanzen. Für ein drittes Hilfsprogramm für Griechenland werde zum Beispiel nicht sehr viel Geld gebraucht, sagte Klaus Regling, Chef des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM), am Donnerstag. Das Haushaltsdefizit des hoch verschuldeten Landes sei mittlerweile sehr viel niedriger, sagte er zur Begründung.

Die volkswirtschaftlichen Daten aus Griechenland oder auch Spanien fielen zuletzt etwas positiver aus. Spanien hat seine mehr als zwei Jahre währende Rezession dank der boomenden Export- und Tourismuswirtschaft verlassen. Das Land kommt auch wieder günstiger an neues Geld. Investoren verlangten am Donnerstag zum Beispiel mit 4,164 Prozent den niedrigsten Zins seit September 2010, um dem Euro-Krisenland für zehn Jahre Geld zu leihen. Auch nach Griechenland kehren die Investoren zurück: Aktien und Anleihen des Krisenlandes sind wieder sehr gefragt. Und dennoch: Die Arbeitslosigkeit in der Euro-Zone ist zuletzt auf einen neuen Rekordstand gestiegen. 19,5 Millionen Menschen waren im September in den 17 Ländern mit der Gemeinschaftswährung arbeitslos. Am höchsten ist die Arbeitslosigkeit weiterhin in Griechenland (27,6 Prozent) und Spanien (26,6 Prozent). Die Zinssenkung der EZB zeigt erneut das Dilemma des gemeinsamen Währungsraums: Während die deutsche Wirtschaft mit einem Zinsniveau von 3 bis 3,5 Prozent leben könnte, tun deutlich niedrigere Leitzinsen dem Süden der Euro-Zone gut.

Welche Wirkung könnte die Zinssenkung haben?

Die deutschen Banken, Sparkassen, Genossenschaftsbanken und Versicherungen kritisierten die Leitzinssenkung am Donnerstag als „nicht notwendig“, weil sie keine konjunkturelle Wirkung entfalten werde. Niedrige Zinsen verbilligen Kredite, die Verbraucher oder Unternehmen aufnehmen, um zu konsumieren oder zu investieren. Ob eine weitere Zinssenkung diesen Prozess zusätzlich anregt, ist aber umstritten. Die Zinssenkung könnte wirkungslos verpuffen, weil sich die Kreditvergabe trotz bereits historisch niedriger Zinsen auch in den vergangenen Monaten nicht spürbar vergrößert hat. Vielmehr mindere ein erneuter Zinsschritt den Druck auf die südeuropäischen Staaten, Reformen fortzusetzen, lautet die Kritik.

Was bedeutet die Zinssenkung für Sparer und für die Altersvorsorge?

Für Sparer und Menschen, die Geld in ihre Altersvorsorge investieren, war der Donnerstag ein schwarzer Tag. Denn ihre Sorgen werden jetzt noch wachsen. Sichere Anlagen haben schon vor der Zinssenkung kaum noch etwas gebracht. Die Zinsen für Tagesgeld dümpeln zwischen 1,2 und 1,5 Prozent vor sich hin, auch die Rendite aller börsennotierten Wertpapiere des Bundes liegt kaum über der Inflationsrate. 13 Milliarden Euro kosten die niedrigen Zinsen die deutschen Sparer allein in diesem Jahr, hat die Postbank ausgerechnet. Nun dürften die Einbußen noch höher ausfallen.

Das bekommen auch die Menschen zu spüren, die mit einer Lebensversicherung für ihr Alter vorsorgen. Denn auch die Versicherer tun sich schwer, das Geld ihrer Kunden in rentierliche und zugleich sichere Anlagen zu investieren. „Die erneute Absenkung des Leitzinses ist ein fatales Signal an alle Altersvorsorgesparer in Deutschland“, kritisierte Jörg von Fürstenwerth, Vorsitzender der Hauptgeschäftsführung des Versicherungsverbands GDV am Donnerstag. „Die niedrigen Zinsen gehen massiv zu ihren Lasten.“ Im Vergleich zu normalen Zeiten haben die Versicherer in den vergangenen fünf Jahren bereits rund 8,5 Milliarden Euro Zinsen weniger kassiert. Nun dürfte sich das Problem noch verschärfen. Das hat Konsequenzen: Derzeit ist nach Einschätzung der Finanzaufsicht Bafin zwar kein Versicherer von der Pleite bedroht, aber die Gewinnbeteiligung der Kunden wird weiter sinken, hatte GDV-Präsident Alexander Erdland kürzlich im Tagesspiegel-Interview prognostiziert.

Verbraucherschützer sehen bereits das Ende der klassischen Altersvorsorge. „Durch die Senkung des Leitzinses sinkt auch die Hoffnung auf eine vernünftige Altersvorsorge“, sagte der Chef des Bundes der Versicherten, Axel Kleinlein, dem Tagesspiegel. „Das Trauerspiel, dass diejenigen bestraft werden, die für das Alter ansparen wollen, geht in den nächsten Akt.“ Kleinlein befürchtet, dass sich Lebensversicherer jetzt zunehmend aus dem aktiven Geschäft verabschieden werden und zukünftig nur noch die Bestände verwalten. „Das Geschäftsmodell der deutschen Lebensversicherer wird durch die Zinssenkung final auf den Prüfstand gestellt“, sagte Kleinlein.

Wächst die Gefahr einer Spekulationsblase?

Große und kleine Anleger werden ihr Geld nun erst recht dort anlegen, wo es mutmaßlich mehr Rendite bringt: am Aktien- und Anleihemarkt sowie in Immobilien. Dort sind die Kurse und Preise allerdings bereits massiv gestiegen. „Zur ohnehin reichlich vorhandenen Liquidität kommt noch mehr Liquidität hinzu“, sagt Sven Krause, Leiter des Fondsmanagements der Landesbank Berlin Investment. „Das Risiko ist gewachsen, dass das Kapital nicht dort ankommt, wo es eigentlich ankommen soll – in der Realwirtschaft.“ Krause sieht durchaus die Gefahr einer spekulativen Übertreibung an den Börsen – mit gefährlichen Risiken für zu optimistische Anleger. „Der Markt wird anfälliger für unerwartete Korrekturbewegungen“, warnt der Fondsmanager. Solange die europäische und die US-Notenbank aber erkennbar nicht von ihrer ultralockeren Geldpolitik abrücken – bislang blieb es bei Ankündigungen –, werden die Kurse weiter steigen.

Wie haben die Finanzmärkte reagiert?

Der Kurssprung des Deutschen Aktienindex (Dax) auf mehr als 9150 Punkte binnen wenigen Minuten zeigt, wie groß die Überraschung über die Zinssenkung war. Auch der Euro gab deutlich rund zwei Cent auf 1,33 Dollar ab. Nur drei von 70 Ökonomen, die die Finanzagentur Bloomberg befragte, hatten mit dem Schritt gerechnet. Das ist ungewöhnlich, bereitet die Notenbank die Märkte gewöhnlich doch gut auf mögliche Zinssenkungen vor. „Wir reiben uns die Augen“, sagt auch Sven Krause. „Mit einem deutschen Bundesbankpräsidenten an der EZB-Spitze wäre das nicht passiert.“

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