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Die Sonne hinter dem Kohlekraftwerk Mehrum im Landkreis Peine auf.

© dpa

Experten befürchten Mehremissionen: Ex-Kohlekommissionsmitglieder kritisieren verschleppten Ausstieg

Die Bundesregierung habe den Beschluss "an entscheidenden Stellen aufgekündigt", sagt die ehemalige Ko-Vorsitzende. Die Industrie kann die Kritik nicht teilen.

Acht von insgesamt 28 ehemaligen Mitgliedern der Kohlekommission üben scharfe Kritik an dem Ausstiegsplan für Braunkohlekraftwerke, den die Bundesregierung vergangene Woche vorgestellt hat. Die Bundesregierung habe den mühsam ausgehandelten Beschluss der Kohlekommission „an entscheidenden Stellen aufgekündigt“, sagte die ehemalige Ko-Vorsitzende der Kommission, die Nachhaltigkeitsprofessorin Barbara Praetorius, am Dienstagmorgen im Rahmen einer kurzfristig angesetzten Stellungnahme in der Bundespressekonferenz.

Praetorius präsentierte dort zusammen mit Kai Niebert, Präsident des Deutschen Naturschutzrings (DNR) und Antje Grothus, Klimaaktivistin aus Nordrhein-Westfalen, einen schriftlichen Appell an die Bundesregierung. Auch Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung gehört zu den Unterzeichnern.

Vor einem Jahr habe sie den Kohlekompromiss zusammen mit den anderen Ko-Vorsitzenden vorgestellt, erklärte Praetorius. Der Kompromiss habe zwischen den unterschiedlichen Interessen einen Ausgleich geschaffen, nun aber bleibe der Klimaschutz auf der Strecke.

Mehremissionen von 40 Millionen Tonnen CO2

Die ehemaligen Mitglieder der Kohlekommission kritisieren , dass die Bundesregierung viele ältere Kraftwerke erst kurz vor 2030 abschaltet. Dadurch entstünden allein im Zeitraum 2023 bis 2030 Mehremissionen in Höhe von 40 Millionen Tonnen CO2. Es sei auch nicht davon auszugehen, dass die Braunkohlekraftwerke in diesem Zeitraum durch einen steigenden CO2-Preis aus dem Markt getrieben würden, sagte Felix Matthes, Energieexperte am Öko-Institut, der ebenfalls zu den Unterzeichnern des Appells gehört.

Mit Blick auf die in Aussicht gestellten Entschädigungen hätten die Kohlekonzerne keinen Anreiz, die Kraftwerke vor dem gesetzlich festgelegten Datum stillzulegen. Was durch den verschleppten Braunkohleausstieg zusätzlich an CO2 emittiert wird, ließe sich auch nicht vollständig durch einen früheren Ausstieg aus der Steinkohleverstromung kompensieren, sagte Matthes weiter.

Zudem üben die ehemaligen Mitglieder der Kommission Kritik an der Inbetriebnahme des neuen Steinkohlekraftwerks Datteln 4. Die Ausstrahlungswirkung des deutschen Kohleausstiegs ins Ausland nehme dadurch enormen Schaden. Nach Berechnungen des Bundesumweltministeriums, über die die „taz“ berichtete, wird Datteln 4 über seine Laufzeit rund zehn Millionen Tonnen CO2 mehr ausstoßen als ältere Kraftwerke mit der gleichen Leistung – weil es als effizienteres Kraftwerk mehr Volllaststunden haben werde.

Konservative teilen die Kritik nicht

Die SPD im Bundestag fordert nun, dass Bundesregierung und Kohlekommission sich erneut zusammensetzen sollten. „Der in der Kommission erarbeitete gesellschaftliche Konsens ist sehr wertvoll“, sagte Fraktionsvize Matthias Miersch. „Wenn jetzt mehrere Mitglieder der Kommission den Konsens gefährdet sehen, dann muss offen darüber geredet werden.“ Das solle auch im direkten Dialog geschehen.

Für „nicht zielführend“ hält hingegen Holger Lösch, stellvertretender Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), die Einwände der Umweltverbände und Klimawissenschaftler. Sie würden nun versuchen, ein für Kohlekraftwerke festes CO2-Budget in die Debatte einzubringen. Dieser Ansatz sei aber schon in Gesprächen in der Kohlekommission „beerdigt“ worden, sagte Lösch dem Tagesspiegel. Der jetzige Ausstieg aus der Braunkohleverstromung, wie ihn die Bundesregierung vorsieht, laufe „möglichst stetig“, wie von der Kommission vorgegeben.

Der BDI war ebenfalls in der Kohlekommission vertreten, den Appell trägt der Verband aber nicht mit. Ohnehin fehlen bei diesem die konservativen Stimmen aus dem Kreis der Kohlekommission: Weder die Industriegewerkschaft IGBCE noch der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) teilen die Kritik der Umweltverbände.

Der BDI pocht nun vor allem auf Kompensationszahlungen für Industrie und Verbraucher, wenn infolge des schrittweisen Kohleausstiegs der Strompreis steigt. Im neuen Entwurf des Kohlegesetzes sind solche Ausgleichszahlungen an energieintensive Betriebe vorgesehen. Die genaue Höhe muss noch festgelegt werden. Die Kohlekommission empfiehlt eine Entlastung von zwei Milliarden Euro jährlich. Was den Ausbau der erneuerbaren Energien betrifft, sieht Lösch das Potenzial für Windkraft an Land begrenzt. Er rät, den Fokus auf Offshore-Windkraft zu setzen – auch durch Partnerschaften im Ausland.

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