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Die berühmte 35 hat die IG Metall nicht geschafft auf den Osten zu übertragen. Ein Arbeitskampf ging 2003 krachend verloren.

© DDP

Entscheidende Verhandlung um die Arbeitszeit: Angleichung Ost in Trippelschritten

In der Industrie wird drei Stunden länger gearbeitet und weniger verdient als im Westen. IG Metall kämpft gegen die Arbeitgeberblockade.

Vergangene Woche befasste sich der Landtag in Brandenburg mit ungewöhnlichen Anträgen der Linken und der AfD. Beide Parteien erklärten ihre Sympathie für die Beschäftigten in der ostdeutschen Metallindustrie, die derzeit für eine Angleichung der Arbeitsbedingungen streiken. Ferner wurde die IG Metall aufgefordert, keine Tarifverträge mehr abzuschließen, „die nicht den vollen Ost-/Westausgleich beinhalten“.

Wenn das so einfach wäre. Die Angleichung verläuft in Trippelschritten. Oder kommt gar nicht vom Fleck. Am heutigen Freitag treffen sich die Vertreter der IG Metall und des Verbandes der Metall- und Elektroindustrie in Berlin-Brandenburg (VME), um den Osten ein wenig in Richtung Westen zu bewegen. In den vergangenen drei Jahren verhandelten die Tarifparteien ungefähr 20 Mal zu diesem Thema. Zwischenzeitlich lag sogar ein Plan auf dem Tisch: VME und IG Metall verständigten sich auf mehrere Schritte bis zur 35-Stunden-Woche 2030, doch der Berliner Regionalverband wurde vom Dachverband zurückgepfiffen.

Im Osten ist die Gewerkschaft schwach

Die Arbeitszeitverkürzung ist ideologisch extrem aufgeladen und steht zugleich für die Stärke und Schwäche der IG Metall. Im Osten liegt die tarifliche Arbeitszeit mit 38 Wochenstunden um drei Stunden über der im Westen. Für die Unternehmen, häufig verlängerte Werkbänke der Konzerne aus dem Westen, ist das ein erheblicher Standortvorteil. Wenn man die Zeit in Geld umrechnet, dann zahlen VW und BMW, Siemens und Bosch ihren Belegschaften östlich der Elbe 8,5 Prozent weniger als im Westen. „Diese Lücke gilt es nach über 30 Jahren politischer Einheit zu schließen“, sagt IG Metall-Chef Jörg Hofmann. Aber wie, wenn die Arbeitgeber nicht wollen?

Im Westen gilt die 35 seit 25 Jahren

Hofmann stammt aus Baden-Württemberg, wo die IG Metall bärenstark ist und Mitte der 1980er Jahre in einem wochenlangen Arbeitskampf eine schrittweise Arbeitszeitverkürzung bis zur berühmten 35 durchsetzte, die seit Mitte der 1990er Jahre im Westen gilt. Im Frühsommer 2003 unternahm die Gewerkschaft einen ähnlichen Versuch im Osten – und scheiterte spektakulär. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten verlor die IG Metall einen Arbeitskampf. Seitdem fasst die größte deutsche Gewerkschaft das Thema nur mit spitzen Fingern an. Aber ihre Mitglieder in den großen Werken der Westkonzerne verlieren die Geduld.

Birgit Dietze, IG Metall-Chefin von Berlin, Brandenburg und Sachsen, führt die Verhandlungen auf Seiten der Gewerkschaft.
Birgit Dietze, IG Metall-Chefin von Berlin, Brandenburg und Sachsen, führt die Verhandlungen auf Seiten der Gewerkschaft.

© dpa

Ob bei VW in Zwickau und Chemnitz, bei BMW und Porsche in Leipzig oder bei Mercedes, Mahle und ZF im Land Brandenburg – die Fabriken sind so produktiv und profitabel wie die Standorte im Westen. Weil das so ist und weil die IG Metall auch in den ostdeutschen Großbetrieben ausreichend streikbereite Mitglieder hat, fährt sie eine Doppelstrategie: Entweder es gibt eine Lösung im Rahmen eines Branchentarifs für Berlin-Brandenburg und für Sachsen, oder die Gewerkschaft erzwingt eine Arbeitszeitverkürzung – oder entsprechende Entgelterhöhungen – in den Unternehmen, in denen sie stark ist. Die lassen sich allerdings fast an einer Hand abzählen.

Transformationsgeld zur Finanzierung

Die stolze Gewerkschaft ist den Arbeitgebern im Laufe der Jahre immer weiter und bis an die Grenze der Selbsterniedrigung entgegengekommen, um einen kleinen Schritt im Flächentarif gehen zu können. Am heutigen Freitag liegt die Lösung auf dem Tisch: Bis 2025 soll die Arbeitszeit von 38 auf 37 Stunden sinken. Damit die Unternehmen aber kostenmäßig kaum belastet werden, zahlen die Arbeitnehmer das weitgehend selbst mit dem „Transformationsgeld“, das kürzlich im Pilotabschluss von Düsseldorf verabredet worden war. Diese Einmalzahlung in Höhe von 18,4 Prozent eines Monatsentgelts haben die Arbeitgeber bundesweit erstmals 2022 zu leisten; von 2023 an sind dann jedes Jahr 27,6 Prozent eines Monatseinkommens fällig.

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Das Transformationsgeld soll Arbeitsplätze im Wandel der Industrie (Digitalisierung und Dekarbonisierung) sicherer machen, indem das Geld nicht an die Beschäftigten gezahlt sondern bei Bedarf für die Finanzierung von Arbeitszeitverkürzung genutzt wird. Und im Osten dann eben für die Reduzierung der Wochenarbeitszeit von 38 auf 37 Stunden.

Autoindustrie im Fokus

Diesen Vorschlag der IG Metall können die Arbeitgeber kaum ablehnen. Das lästige Thema schwelt seit Jahren in den Belegschaften und wäre dann erstmal abgeräumt. Und der Flächentarif wäre gerettet. Das haben sich vor allem die Konzerne gewünscht, die mit einer Branchenlösung viel günstiger fahren als mit einzelbetrieblichen Arbeitszeitverkürzungen.

Die Drohung mit Haustarifen ist das einzigen Druckmittel in der Hand der IG Metall. Das betrifft aber eben nur ein paar Betriebe, die sie aufgrund des hohen Organisationsgrades in diesen Tagen mit ganztägigen Streiks quälen kann. Im gesamten Osten hat die Gewerkschaft viel zu wenige Mitglieder; entsprechend sieht die Tarifbindung aus. Nach Angaben es sächsischen Metallverbandes sind im Freistaat 62 von 1800 Unternehmen tarifgebunden. Diese 62 beschäftigen 25 000 der 190 000 in Sachsen tätigen Metaller. Von den 25 000 arbeitet fast die Hälfte bei BMW und Porsche in Leipzig.

Fast zehn Euro weniger Stundenlohn

„Der Flächentarif kann nur überleben, wenn gleiche Wettbewerbsbedingungen bestehen“, argumentieren die Sachsen-Arbeitgeber. Davon sind wir weit entfernt im vereinten Land, wie die Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage des Linken-Bundestagsabgeordenten Pascal Meiser belegt. Der durchschnittliche Stundenlohn in der Metallindustrie betrug im Westen im vergangenen Jahr 28,39 Euro und im Osten 18,95 Euro. In den letzten 15 Jahren ist die Kluft kaum geschrumpft. Die sächsischen Arbeitgeber rechnen anders: Von 2003 bis 2020 sei das tarifliche Jahreseinkommen der Metaller von 28 346 auf 39 100 gestiegen. Gleichzeitig sei die Zahl der Betriebe im Freistaat um gut 30 Prozent und die der Arbeitsplätze sogar um mehr als 50 Prozent gestiegen. Schlussfolgerung der Arbeitgeber: „Die 38-Stunden-Woche war und ist gut für Sachsen.“

„Der Osten darf nicht länger die Billigwirtschaftszone Deutschlands bleiben“, meint dagegen der Linken-Politiker Meiser. „Die anhaltende Schlechterstellung des Ostens birgt eine enorme soziale Sprengkraft in sich.“ Diese Gefahr sehen auch die politisch umsichtigen Arbeitgebervertreter an der Spitze des Dachverbandes Gesamtmetall. „Wir müssen da schnell ein Lösung finden“, sagt ein Arbeitgeber. „Und verhindern, dass das Thema auf der politischen Ebene landet.“ Diese Einsicht kommt spät.

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